Weltenbau #5 – Nun sag, wie hast du’s mit der Religion?
Religion beim Bau fiktiver Welten. Eine echte Gretchenfrage.
Religion beim Bau fiktiver Welten. Eine echte Gretchenfrage.
Die Prämisse:
Kaum eine uns bekannte Kultur kommt ohne Religion aus – seltene Ausnahmen bestätigen hier die Regel. Man könnte sogar argumentieren, dass in vielen Staaten, in denen der Atheismus gefördert wurde (meist im marxistisch-leninistischen Kontext), die Ablehnung eines Glaubens so extreme Formen annahm, dass sie schon fast wieder religiöse Züge hatte. Eines der wenigen Länder der Erde, in denen ein Großteil der Bewohner sich als Atheisten betrachten, ist z.B. Vietnam.
Aber selbst Menschen, die sich selbst nicht als religiös bezeichnen würden, bekennen sich oftmals zu Wertvorstellungen, die in der ihnen vertrautesten Religion eine zentrale Rolle spielen. (Z.B. das Gebot „Du sollst nicht töten!“, das auch viele Nicht-Christen unterstützen.)
Als Leser erwarten wir, in fiktiven Welten bis zu einem gewissen Grad Vertrautes vorzufinden. Eine Welt, in der Religiosität in keiner Form vorkommt, wäre also wahrscheinlich unglaubwürdig.
Und nun?
Das bringt den Autor, der nun fleißig eine Religion entwickeln will, natürlich zu der Frage: was ist das eigentlich? Wie immer hilft Wikipedia weiter, und ich gebe hier gekürzt wieder: Religion ist ein Sammelbegriff für eine Vielzahl unterschiedlicher Weltanschauungen, deren Grundlage der Glaube an bestimmte transzendente Kräfte ist. Gemeinsam ist also allen Religionen, dass sie alleine auf dem Glauben an etwas Übernatürliches beruhen. Dieser Glaube ist nicht rational oder wissenschaftlich beweisbar, sondern beruht auf individuellen und intuitiven Erfahrungen.
Dann kann ich mir ja ausdenken, was ich will!
Ja, im Prinzip schon. Bei kaum einem Feld kann der Autor sich so austoben wie beim Erfinden neuer Religionen. Er kann seine Völker an das heilige Gänseblümchen oder einen himmlischen Drachen glauben lassen, an Tausende unsichtbare Götter oder die Heiligkeit einer realen Teetasse. Auch die zur Religion gehörigen Riten sind kaum einer Beschränkung unterworfen. Wenn der Autor es will, dann gilt Meerwasser als spirituell reinigend, Gläubige tragen immer grün, neugeborene Kinder werden mit Asche und Honig gesegnet, und das Essen von Salatblättern ist in Vollmondnächten ein schwerer Frevel.
Aber ist das dann auch glaubhaft?
Das bringt mich wieder auf meine oben postulierte Behauptung zurück, dass man sich als Leser eben doch nur ein Stück weit auf eine fiktive Welt einlassen kann. Irgendein vertrautes Element muss vorkommen, sonst können wir uns mit der erzählten Geschichte nicht identifizieren.
Ich denke deshalb, dass es sinnvoll ist, eine Religion nicht „ins Blaue hinein“ zu erfinden, sondern sich existierende Religionen als Grundlage zu nehmen. Andernfalls wirkt die erdachte Religion doch gerne unfreiwillig komisch. (Oder freiwillig komisch, wie Terry Pratchett in „The Truth“ demonstriert hat: „It'll be all right as long as you've got your potato!“).
Sehen wir uns mal die wichtigsten Fragen bei der Stiftung, äh, beim Erfinden neuer Religionen an:
Ein Gott oder mehrere?
Wir leben in einem Zeitalter, in dem die monotheistischen Religionen ihre große Stunde haben, das war im Altertum aber anders. Wahrscheinlich war die erste monotheistische Religion Echnatons Sonnenkult – ein Konzept, das auf wenig Gegenliebe stieß und bald mitsamt dem religionsstiftenden Pharao entsorgt wurde.
Polytheistische Religionen mit gleichberechtigten Göttern sind heute z.B. Bön, Santeria, Candomblé oder ShintÅ. Der Hinduismus ist kein echte polytheistische Religion, da alle Millionen Hindu-Götter nur als verschiedene Ausdrucksform einer einzigen, göttlichen Kraft gelten. Auf die meisten traditionellen afrikanischen Religionen gehen von einem Hauptgott mit mehreren Untergebenen aus und zählen damit nicht als polytheistisch.
Monotheismus bedeutet erst einmal nur, dass der Gläubige sich verpflichtet fühlt, nur einem bestimmten Gott zu huldigen. Er kann die Existenz anderer Götter aber durchaus anerkennen. Selbst in den zehn Geboten ist das gar nicht so eindeutig geregelt: das zweite Gebot befielt „Du sollst neben mir keine anderen Götter haben!“ Gott verlangt also Exklusivrechte von seinen Gläubigen. Es wird aber nicht die Behauptung aufgestellt, dass es keine anderen Götter gäbe. (Die Nachbarstämme dürfen ruhig an Baal glauben, wenn sie wollen – sie werden schon sehen, was sie davon haben.)
Zwischen Poly- und Monotheismus gibt es also überraschende Überschneidungen. Selbst ein Anhänger einer echten polytheistischen Religion kann sich monotheistisch verhalten, indem er immer nur seinen Lieblingsgott anbetet.
Wie sind die Götter denn so?
In vielen Religionen stellt man sich die Götter als Personen vor – Ludwig Feuerbach hat es mit „Homo Homini Deus est“ schön auf den Punkt gebracht. „Der Mensch ist dem Menschen ein Gott“, anders gesagt: der Mensch projiziert das, was er gut kennt (nämlich sich selbst), in seine Vorstellung des Göttlichen. Das macht die Götter schön verständlich und ihr Verhalten begreifbar. Die altgriechischen und -nordischen Götter sind hier Paradebeispiele mit ihren ewigen Streiterein und Ränkespielen.
Andere Religionen stellen sich die Götter als Tiere oder Chimären vor, um ihre Einzigartigkeit auszudrücken. Meine ganz persönliche Favoritin der letzteren Gruppe ist eindeutig die altägyptische Ipet-weret-em-chet-Nut, die meist als schwangeres Nilpferd mit Krokodilsrücken, Menschenhänden und Löwenpranken dargestellt wurde.
Gibt es überhaupt einen Gott?
Auf den ersten Blick eine blödsinnige Frage, aber tatsächlich existieren einige Religionen, die gut ohne Gott auskommen. Gute Beispiele sind hier der Buddhismus und Jainismus. Allerdings gibt es hier Grenzfälle: obwohl Buddha kein Gott ist, wird er in der Realität oftmals wie einer vereehrt – das heißt, er wird angebetet, ihm werden Opfer dargebracht, und der Gläubige bittet manchmal um konkrete Dinge, die Buddha erfüllen soll.
Wie sieht das mittlere Management aus?
Bei sehr vielen Religionen gibt es noch eine Art mittleres Management zwischen dem Chef/Gott und seinen Untergebenen/Gläubigen. Oft sind diese übernatürlichen, aber nicht (haupt)göttlichen Wesen Vermittler zwischen den Menschen und den Göttern, das muss aber nicht sein – manche sind auch im wahrsten Sinne des Wortes böse Plagegeister. Engel, Heilige, Totems und Kraftiere sind gute Beispiele für die Erstgenannten, die japanischen YÅkai oder die Ifrit aus dem arabischen Raum fallen eher unter die zweite Gruppe.
Und das Bodenpersonal?
Da gibt es drei Arten: zum einen die kontemporären religiösen Führer, zum anderen die Religionsstifter, und dann auch noch göttliche Menschen.
Die religiösen Führer, die im Alltagsleben relevant sind, dürften beim Erfinden einer neuen Religion am wichtigsten sein: gibt es PriesterInnen, Vorbeter, Hexen, Inquisitoren, Schamanen, Geistersprecher? Sie, ihre religiösen Riten und ihre Alltagsgebote sind das, womit unsere Protagonisten in Berührung kommen. Auch vergöttlichte Menschen können in einem Roman eine Rolle spielen. Gibt es so etwas wie einen menschgeworden Gott (historisch Jesus, oder aktuell die nepalesischen Kumaris), oder Menschen, die zu Lebzeiten zu Göttern erklärt wurden (wie im antiken Rom)?
Und sonst noch?
Man kann das Thema beliebig ausweiten, und existierende Religionen noch auf viele andere Faktoren hin untersuchen. Welche Haltung haben die Götter z.B. gegenüber ihren Gläubigen und der Welt? Haben sie sie erschaffen und lassen sie seitdem in Ruhe, oder greifen sie in das Leben der Gläubigen ein? Gibt es Wunder? Kann der Gläubige sein Schicksal selbst in die Hand nehmen, sein Seelenheil durch Sünden gefährden, sein Karma mit guten Taten verbessern, sich per Ablassbrief einen Platz im Himmel vorkaufen – oder folgt das ganze Leben des Gläubigen einem vorgegebenen göttlichen Plan? Was war überhaupt der Auslöser für die Religion? Eine göttliche Stimme, ein Regenbogen, oder eine vom Himmel gefallene Kiste (man denke an die Cargo-Kulte)? Wird die Religion überhaupt überall auf der Welt gleich ausgelegt? Ich bin z.B. in Indien einmal von einer Christin entsetzt zurechtgewiesen worden, weil ich Schweinefleisch gegessen hatte – dem katholischen Priester in Niederbayern wird aber kaum jemand seinen Schweinsbraten ausreden können.
Persönlich glaube ich, dass man sich beim Ausdenken einer Religion nicht mit allen hier aufgeworfenen Fragen auseinandersetzen muss, um sie glaubwürdig erscheinen zu lassen. Wie bei praktisch jedem Thema im Bezug auf Weltenbau kann man sich schnell in zu vielen Details verzetteln, die für den Plot nicht relevant sind.
Allerdings finde ich auch, dass gerade Religionen etwas sind, die man mit einer gewissen Sorgfalt entwickeln sollte, damit sie realistisch wirken. Und mir fallen nur wenige Bespiele für ausgedachte Religionen ein, die sich (für mich) wirklich stimmig anfühlen. Daher würde mich interessieren:
Gibt es in Euren Welten überhaupt Religion(en)?
Wie entwickelt ihr diese?
Sind Eure Götter „real“ und greifen in ihrer Welt ein, oder sind sie abstrakte Konstrukte?
Gilt die Zuordnung „ein Volk, eine Kultur, eine Religion“, oder erkennen alle Völker die gleichen Götter an?
Sind Eure Protagonisten gläubig? Und wenn ja, warum habt Ihr Euch dafür entschieden?
Gibt es in Euren Welten auch Atheisten oder Agnostiker?
(Auf religiöse Praktiken, wie z.B. Bestattungsriten oder Hochzeitsbräuche, wollen wir gesondert eingehen, die könnt Ihr hier also erstmal weglassen.)
Ich bin sehr gespannt auf Eure Antworten!
- Alys
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