Nachdem wir uns letztes Mal mit dem abstrakten Konzept fiktiver Religionen beschäftigt haben geht es heute um die ganz konkrete Anwendung davon. Wie leben die erdachten Charaktere ihre Religiosität aus? Wird ihr Alltag von starren Traditionen und Regeln beherrscht, oder gilt (um eines meiner Lieblingszitate aus 'Fluch der Karibik' zu bemühen): "It's mostly guidelines"?
Die meisten Religionen schreiben ihren Gläubigen bestimmte Verhaltensweisen im Alltag vor, und ganz grob kann man diese in zwei Gruppen einteilen: Gebote und Verbote. Diese lassen sich in Romanen natürlich wunderbar verwenden, um etwas Hintergrundflair zu erschaffen. Dass ein Charakter grundsätzlich jedem Bettler ein Almosen gibt, oder kein Fleisch von "unreinen" Tieren isst, lässt sich in einem Nebensatz einbauen.
Für uns Schreiber interessanter finde ich persönlich die größeren Rituale, die nur zu besonderen Anlässen durchgeführt werden, denn solche Anlässe sind ja dann auch meist im Plot wichtige Punkte und lohnen, ausführlich beschrieben zu werden. Von der Choreographie der anwesenden Personen bis hin zur musikalischen Untermalung, dem erforderlichen Ritualkleid und der Auswirklung, die all das auf die Emotionen der Charaktere hat: Große Rituale können wunderbare große Szenen ergeben.
Solche Rituale oder Zeremonien gibt es in praktisch allen (echten) Religionen, und in fast allen Religionen findet sich jeder der unten genannten Punkte:
- Fruchtbarkeitsriten für Menschen
- Fruchtbarkeitsriten für die Natur und eine erhoffte reiche Ernte
- Feste, mit denen eine neue Jahreszeit begrüßt oder eine alte Jahreszeit verabschiedet wird
- Aufnahme eines Kindes (oder Konvertiten) in die Gemeinschaft der Gläubigen
- Initiationsritus, der den Übergang von Kindheit zu Erwachsenenalter markiert
- Hochzeit
- Weihe einer Person für ein der Religion gewidmetes Leben
- Segnung von Objekten
- Beistand bei schwerer Krankheit und/oder Sterbebegleitung
- Totenwache
- Bestattung
- Gedenken an Verstorbene
Ich finde es fast erstaunlich, wie sehr sich diese Rituale bei verschiedenen Religionen gleichen, wenn man sich nicht auf die durchgeführten Handlungen konzentriert, sondern auf den Kernaspekt der Sache:
Natürlich unterscheidet sich der Fruchtbarkeitsritus der katholischen Kirche (kaum vorhanden: ist reduziert auf einen Satz, der bei der Trauung gesprochen wird und in dem auf die Kinder, die aus der Verbindung hervorgehen werden, eingegangen wird) von den Ritualen, die in manchen neo-heidnischen Glaubensgemeinschaften gefeiert werden (und die bis zu einem echten Geschlechtsakt gehen). Aber der Grundgedanke ist der gleiche: die Fruchtbarkeit der Gläubigen soll gefördert werden, damit die Gemeinschaft der Gläubigen nicht ausstirbt.
Und genauso ist es eigentlich mit all den anderen religiösen Zeremonien, die irgendwann im Leben einer Person durchgeführt werden.
Manche führen eine Taufe mit Wasser durch und manche tragen das Kind über ein Feuer – in jedem Fall wird damit ein Neuankömmling in die Gemeinde aufgenommen.
In manchen Kulturen muss ein Jugendlicher einen Löwen erlegen, und in manchen nur sein Taufversprechen erneuern – aber immer gilt er danach innerhalb der Glaubensgemeinschaft als erwachsen.
Ein toter Körper mag beerdigt, seebestattet, verbrannt oder von Geiern aufgefressen werden – es ist aber immer ein Ritual, dass den Hinterbliebenen Hoffnung geben und sie in ihrer Trauer auffangen soll.
Egal ob Erntedank gefeiert wird oder Lughnasadh - die Idee dahinter ist, den Herbst zu begrüßen und Dankbarkeit für die geernteten Gaben zu zeigen.
Diese Vielfalt in der Realität ermöglicht uns aber auch, in der Fiktion so ziemlich alles zu erfinden, was wir wollen - sofern es in seinem Grundgedanken irgendwie Verwandtschaft mit einem echten, irdischen Ritual hat.
Bevor ich mit der Recherche für diesen Artikel anfing hatte ich erwartet, bei erfundenen Religionen aus irgendwelchen Büchern (auch Filmen etc.) irgendwo über ausgedachte Rituale zu stolpern, die sich mit keinem realen Ritus vergleichen lassen. Tatsächlich habe ich aber kein einziges gefunden. Fällt Euch eines ein?
Egal was für eine Art von Ritual wir in unseren erdachten Geschichten beschreiben, es kann ein tolles Werkzeug sein, um den Plot voranzubringen und vor allem der Welt und ihren Charakteren Tiefe zu verleihen. Je komplexer das Ritual, umso älter ist seine Geschichte. Die pompöse, durchchoreographierte Taufe eines Thronerben gibt uns viel Platz, die reiche Geschichte seines Staats ohne Infodumping durchschimmern zu lassen. Die Nottaufe eines sterbenden Kindes, das unter dramatischen Umständen geboren wurde, gibt dagegen viel Möglichkeit, Emotionen einfließen zu lassen.
Trotzdem habe ich bei meiner Recherche für diesen Artikel nur relativ wenige Beispiele für wirklich ausführlich geschilderte religiöse Handlungen in Büchern gefunden. Bei Filmen und Serien wird man schnell fündig – wahrscheinlich, weil sich Ritualszenen gut optisch beeindruckend umsetzen lassen. Und ich frage mich, woran das liegt.
Gelten solche Szenen niedergeschrieben als langweilig und langatmig? Oder sind sie einfach zu schwer zu schreiben? Ich tendiere dazu, letzteres zu glauben. Wo ich nämlich in der Literatur solche Szenen entdeckt habe, da fand ich sie oft unfreiwillig komisch oder einfach unglaublich blöd.
Mich würde daher sehr interessieren, wie Ihr das handhabt.
Beschreibt Ihr Rituale ausführlich?
Denkt Ihr sie Euch komplett selbst aus, oder holt Ihr Euch absichtlich Inspiration von echten Religionen?
Nutzt Ihr sie als Element, um den Plot voranzubringen, oder Eure Charaktere zu bestimmten Verhaltensweisen zu zwingen?
Kommentar