Was sind vielschichtige Figuren?

[Milch]

Was machen für euch vielschichtige Figuren aus?
Und wie erfindet man sie?

[Ankh]

Vielschichtige Figuren sind für mich diejenigen, die nicht nur einen plotrelevanten Aspekt haben, sondern eben mehrere: auch widersprüchliche, auch für den Plot irrelevante, und vor allem kontroverse und nicht nur sympathische.

Trotzdem muss das natürlich alles sinnvoll zusammenpassen. Ein Abenteurer darf Angst vor Schlangen haben, aber ein Höhlenforscher mit Klaustrophobie braucht schon einen sehr guten Grund, warum er sich für diesen Berufsweg entschieden hat. Und damit sind wir auch schon bei dem Punkt, wie man sie entwickelt: Du nimmst die Dinge, die deine Figur für den Plot benötigt, fügst andere Eigenschaften dazu, die ihr auf ihrem Weg hinderlich sein werden und damit Konflikte erzeugen, streust noch ein paar zufällige, eigentlich irrelevante Details dazu, die das Ganze bunt machen, und überlegst dur dann eine Vorgeschichte, die begründet, wie all diese Aspekte zusammengehen.

Wenn ich beim letzten Part Schwierigkeiten habe, dann ist das oft ein Zeichen, dass die Figur noch nicht rund ist und entweder ein wesentlicher Aspekt fehlt oder einer nicht recht ins Gesamtbild passt.

[Ena]

Die Widersprüche finde ich auch sehr wichtig! Leider ist es für mich aber genau der Punkt bei dem ich am meisten mit meinen Charakteren kämpfe, bzw sogar einfach vergesse und später den Charakter anschaue und denke "wieso bist du so einfach gestrickt? Ach, da war ja was"

[Lacerta]

Vielschichtige Figuren sind für mich diejenigen, die nicht nur einen plotrelevanten Aspekt haben, sondern eben mehrere: auch widersprüchliche, auch für den Plot irrelevante, und vor allem kontroverse und nicht nur sympathische.

Ich finde, Ankh hat das gut auf den Punkt gebracht.
Gebe ich den Figuren ein "Seelenleben", werden sie vielschichtig.

[Kelpie]

Das von Ankh genannte Wort "Widerspruch" finde ich besonders wichtig. Das heißt nicht, dass die Figur nicht schlüssig bzw. unlogisch sein soll, sondern dass sie Sehnsüchte, Ziele und Charaktereigenschaften hat, die sie in unterschiedliche Richtungen drängen und zerren. Das sind die Menschen, die am aufregendsten sind (auch im echten Leben) und ich bin sicher, jeder wird sich selbst darin finden.
Ein brutaler Straßenräuber, der Zuhause mit seinem Kind spielt. Die ambivalente Frau, die in einer Beziehung zwischen Sensualität und Flucht schwankt. Der freiheitsliebende Einzelgänger, der in seinem Beruf gefangen ist. Der Musiker, der die Gegenwart von Menschen nicht erträgt.

Ein vielschichtiger Charakter sollte in meinen Augen einen kleinen Schmerz im Leser ansprechen, weil er zwiegespalten oder in Zwei gerissen ist - ohne dass man das dramatisch breittritt bzw. gar das Mitleid des Lesers ansprechen will. Und gleichzeitig, und das ist mir das Wichtigste, sollte ein vielschichtiger Charakter bis zum Ende Überraschungen bereithalten und unvorhergesehene Dinge tun können, ohne dass diese unlogisch sind. Er sollte dem Leser bis zu einem gewissen Grad rätselhaft bleiben, seine Handlungen nicht vorhersehbar sein.

[Milch]

Soll er wirklich rätselhaft oder soll er besser unvorhersahbar sein?

[Kelpie]

Unvorhersehbar.

Wobei irgendwie spielt es keine Rolle. Je nachdem, was besser zum Charakter passt. Diese übertrieben rätselhaften Figuren, die in ihrer Vergangenheit ach so Schlimmes durchgemacht haben, sind wiederum platt.

[Milch]

Gibt es weitere Erklärungen zu vielschichtigen Figuren?

[Sophie]

Was wäre denn dein Ansatz dazu?

[Milch]

Ich will erst einmal sammeln, was man darunter verstehen kann.

[Palun]

Jede Figur in einer Geschichte hat normalerweise einen Wunsch. Auch Nebenfiguren. Wenn man sie fragen würde: "Was willst du?", könnten sie eine mehr oder weniger überzeugende Antwort geben.

Vielschichtige Figuren besitzen neben diesem - bewussten - Wunsch gleichzeitig einen unbewussten Wunsch. Sie behaupten zwar, x zu wollen, aber der Leser spürt, da ist eigentlich mehr. Ihr Verhalten drängt in eine andere Richtung. Da kommen zB auch die wichtigen Widersprüche her, die bereits erwähnt wurden. Am spannendsten ist es auch, wenn bewusster und unbewusster Wunsch einander direkt widersprechen. In diesem Spannungsfeld kann man der Figur folgen, sie bei ihrem Wachstum beobachten und eine tiefere Ebene in Verständnis und Empathie erreichen.

Man kann es auch umgekehrt betrachten, vielleicht ist das leichter: Was ist eine langweilige Figur? Wenn sie am Ende der Geschichte genau den Eindruck bestätigt, den man von Anfang an hatte. Figur wird vorgestellt, wir lernen: "Aha, er/sie will dies und das." Und man wartet ständig auf eine Wendung, die vielleicht niemals kommt. Darauf, dass unbewusste Kräfte die Figur in eine neue, für sie und uns überraschende Richtung bewegen.

Aber eigentlich sind es viele unterschiedliche Aspekte, die zu Vielschichtigkeit beitragen. Zum Beispiel auch die Unterscheidung zwischen Charakter und Charakterisierung, die an anderer Stelle schon mal thematisiert wurde. In jedem Fall ist es nötig, über die reine Beschreibung hinaus zu gehen.

Die Reaktionen einer Figur definieren für mich ihre Vielschichtigkeit.