Ich habe das Buch auf Englisch gelesen. Wenn es einem "nur" um die Handlung geht, dann kann man es sicher auch gut auf Deutsch lesen - angeblich soll die Übersetzung sehr gut sein - allerdings sind in der englischen Originalversion noch einige sprachliche Schönheiten, die unübersetzbar sind. Deswegen würde ich jedem, der an eleganten Wortspielen Freude hat, zum englischen Buch raten.
"The Handmaid's Tale" von der kanadischen Autorin Margaret Atwood erschien 1985 als dystopische Zukunftsversion, in einer nicht allzu fernen Zukunft angesiedelt. Es hat Parallelen zu Huxleys "Brave New World" oder Orwells "1984", zumindest was die vermittelte Grundstimmung betrifft.
In letzter Zeit hatte das Buch einen Popularitätsschub, weil 2017 eine Fernsehserie daraus entwickelt wurde, die einige Emmys abgeräumt hat. Es gibt auch eine alte Verfilmung von 1990.
Handlungsort ist Gilead, eine christlich-theokratische, patriarchische Militärdikatur, die die USA abgelöst hat. Gilead entstand innerhalb weniger Jahre, nachdem in den USA christlich-fanatische Strömungen immer mehr Einfluss gewannen und schließlich die Regierung in einem Militärputsch gewaltsam absetzten.
Das System ist ein totalitäres Regime, ein Überwachungsstaat mit streng festgelegter Hierarchie. Gilead befindet sich im Krieg sowohl mit Guerilla-Rebellen (häufig andere christliche Gruppen) als auch den meisten angrenzenden Staaten. Die Staatsregligion ist das Christentum der "Söhne Jakobs", einer fiktiven Gruppe, die andere christliche Gruppen wie z.B. Katholiken, Baptisten, Quäker etc. gnadenlos als Ketzer verfolgt.
Die Bevölkerung von Gilead, überhaupt der ganzen Welt, ist aufgrund von Umweltgiften und Strahlenschäden (beides eine Folge sowohl von verantwortungsloser Umweltpolitik und Kriegsfolgen) größtenteils unfruchtbar. Die wenigen Kinder, die noch geboren werden, leiden häufig unter Krankheiten und Mutationen. Fruchtbarkeit und das Gebären von gesunden Kindern sind damit zur Obsession geworden.
Die Gesellschaft ist streng aufgeteilt: prizipiell herrschen die Männer, wobei es auch hier eine strenge Hierarchie gibt und z.B. nicht jeder Mann das Anrecht auf eine Ehefrau hat. Die Frauen sind aufgeteilt in Wives (Ehefrauen), Marthas (Hausangestellte), und Handmaids (Mägde). Handmaids sind erwiesenermaßen fruchtbare Frauen. Sie werden als Gebärmaschinen von Haushalt zu Haushalt weitergereicht. (Angedeutet wird noch, dass es eine Unterschicht gibt, in der die Frauen alle Jobs erledigen müssen, also Ehefrau/Gebärmaschine sein und den Haushalt schmeißen - diese Klasse kommt aber in der Handlung nicht vor.) Frauen haben keinen Besitz, dürfen nicht lesen (nicht einmal die Bibel), nicht arbeiten und keine Ausbildung bekommen.
Da die meisten Wives keine Kinder bekommen können lebt in fast jedem Haushalt der Oberschicht eine Handmaid, deren einziger Job es ist, dem Hausherrn und seiner Frau ein Kind zu gebären. Das Kind gilt dann als Kind der beiden. Der Akt der Begattung ist eine streng ritualisierte Zeremonie und wird in einen an den Haaren herbeigezogenen christlichen Kontext eingebunden. Da die Handmaid ja nur als eine Art lebender Ersatz-Uterus der Wife gilt, hat sie nicht einmal einen Namen - sie gilt als Gegenstand, der dem Hausherrn gehört, und wird nach ihm benannt.
Toll ist, dass man beim Lesen dieses ganze System und seine Geschichte ohne jegliches Info-Dumping kennenlernt, sondern alle Fakten einfach in die Geschichte eingearbeitet sind.
Die Geschichte wird aus der Ich-Perspektive erzählt von Offred, deren echten Namen man nie erfährt. Ihr "Name" ist schon so ein Geniestreich der Autorin!
Erstmal ist es ganz normal eine typische Bezeichnung einer Handmaid: ihr Hausherr heißt mit Vornamen Fred, also ist sie "of Fred" = "Offred". Andere Handmaids heißen Ofwarren, Ofglen, Ofwayne und so weiter (auf Deutsch: Desfred, Deswarren, Desglen, Deswayne). Gleichzeitig ist "Offred" aber auch ein schönes Wortspiel: es klingt darin das englische "offered" (also: "angeboten", "als Opfer dargeboten") mit, und gleichzeitig klingt es wie "of red" ("rot", "von roter Farbe"), was sich auf die blutrote Kleidung der Handmaids bezieht. - Solche sprachlichen Schätze lassen sich einfach nicht übersetzen, deswegen empfehle ich das englische Orginal.
Offred ist vor einigen Wochen ihrem zweiten Haushalt zugeteilt worden, nachdem sie im ersten versagt hat, also kein Kind bekam. Es ist zwar allen klar, das dies (wahrscheinlich) daran liegt, das auch die meisten Männer steril sind, diese Wahrheit darf aber nicht ausgesprochen werden. Wenn Offred wieder kein Kind bekommt, dann droht ihr das Schicksal, deportiert zu werden "in the colonies" - Randgebiete des Staats mit Kriegsschäden, in denen hohe Hintergrundstrahlung herrscht und die Bevölkerung toxischen Müll wegräumen soll. Niemand überlebt dort lange.
Die Wife in Offreds Haushalt, Serena Joy, hasst Offred zwar - verständlicherweise - aber sie will unbedingt ein Kind. Nach und nach tun sich verschiedene Wege auf, wie Offred doch schwanger werden könnte, auf höchst illegale und damit lebensgefährliche Weise natürlich. Und Offred verliebt sich, obwohl sie eigentlich ihrem Mann Luke nachtrauert, mit dem sie versuchte, aus Gilead zu fliehen. Gleichzeitig beginnt ihr Hausherr, unerlaubt ihre Nähe zu suchen, um mit ihr Dinge zu teilen, die er mit seiner streng gläubigen Frau nicht teilen kann: erstmal nur Scrabble spielen, Lesen, alte Vogue-Magazine ansehen. Nebenbei bekommt Offred Kontak zu einer Resistance-Bewegung. Trotzdem bleibt sie in dem System gefangen, was umso bitterer ist, je öfter sie sich an ihre Mutter erinnert - denn ihre Mutter war Feministin und eine leidenschaftliche Frauenrechtlerin.
Die Geschichte fängt ein wenig langsam und behäbig an, das ist einer meiner beiden Kritikpunkte an dem Buch. Ich hätte mir das erste Drittel etwas gestrafft gewünscht. Obwohl es schwer zu sagen ist, wo man mit dem Streichen anfangen sollte, denn durch den langsamen Aufbau entwickelt das Buch auch eine Art Sog. Man wird in Offreds seltsame Welt hineingezogen. Trotzdem haben mir die beiden letzten Drittel besser gefallen, wo die Geschichte richtig an Fahrt auf nimmt.
Interessant ist übrigens auch der Aufbau des Buchs: Neben den Kapiteln ist es noch in übergeordnete Abschnitte eingeteilt. "Night" kommt dabei mehrfach vor, und alles was "Night" ist, behandelt das Innenleben und die unmittelbare Gegenwart Offreds. Die anderen Teile, wie "Shopping", "Jezebel's", "Bath" usw. beschreiben die äußeren Umstände, Personen, mit denen sie interagiert, und ihre Vorgeschichte. Dabei wird häufig eine Erinnerung Offreds durch eine aktuelle Handlung getriggert, und sie springt in der Chronologie wild hin und her. Atwood variiert dabei auch die Erzählzeit zwischen present und simple past (im Deutschen wahrscheinlich Präsens und Präterium), was sich aber sehr gut liest. Überhaupt ist der Stil wirklich lesenswert: kurz, prägnant, manchmal fast im Telegramm-Stil, und deshalb umso intensiver.
Mir hat das Buch wahnsinnig gut gefallen, obwohl es defintiv keine leichte Kost ist und kein Wohlfühlbuch.
Neben dem oben schon erwähnten etwas trägen Anfang ist mein einziger weiterer Kritikpunkt, dass ich glaube, eine so grundlegende Änderung der Gesellschaft könnte nicht in so wenigen Jahren passieren (wenn man Offreds Erinnerungen genau ansieht, dann muss die Wandlung von der "normalen", aktuellen Gesellschaft zu dem totalitären Regime innerhalb von 2-4 Jahren geschehen sein). Grundsätzlich halte ich eine Änderung dieser Art schon möglich - man denke z.B. an den Wandel des recht liberalen Persien hin zum iranischen Gottesstaat. Auch und gerade christliche Gruppen könnten solche Staaten erschaffen. Aber nicht in so kurzer Zeit.
Trotzdem hat mich das Buch genug beeindruckt, um 5 Sterne zu vergeben.
(Übrigens gibt es hier im Forum schon eine Rezi zu dem Buch, von Amilyn, die zu einem deutlich anderen Ergebnis kommt: https://wortkompass.de/forum/interne...argaret-atwood
Ich habe nur eine neue geschrieben, weil es für mich dem Gefühl nach auf Englisch ein anderes Buch ist.)
"The Handmaid's Tale" von der kanadischen Autorin Margaret Atwood erschien 1985 als dystopische Zukunftsversion, in einer nicht allzu fernen Zukunft angesiedelt. Es hat Parallelen zu Huxleys "Brave New World" oder Orwells "1984", zumindest was die vermittelte Grundstimmung betrifft.
In letzter Zeit hatte das Buch einen Popularitätsschub, weil 2017 eine Fernsehserie daraus entwickelt wurde, die einige Emmys abgeräumt hat. Es gibt auch eine alte Verfilmung von 1990.
Handlungsort ist Gilead, eine christlich-theokratische, patriarchische Militärdikatur, die die USA abgelöst hat. Gilead entstand innerhalb weniger Jahre, nachdem in den USA christlich-fanatische Strömungen immer mehr Einfluss gewannen und schließlich die Regierung in einem Militärputsch gewaltsam absetzten.
Das System ist ein totalitäres Regime, ein Überwachungsstaat mit streng festgelegter Hierarchie. Gilead befindet sich im Krieg sowohl mit Guerilla-Rebellen (häufig andere christliche Gruppen) als auch den meisten angrenzenden Staaten. Die Staatsregligion ist das Christentum der "Söhne Jakobs", einer fiktiven Gruppe, die andere christliche Gruppen wie z.B. Katholiken, Baptisten, Quäker etc. gnadenlos als Ketzer verfolgt.
Die Bevölkerung von Gilead, überhaupt der ganzen Welt, ist aufgrund von Umweltgiften und Strahlenschäden (beides eine Folge sowohl von verantwortungsloser Umweltpolitik und Kriegsfolgen) größtenteils unfruchtbar. Die wenigen Kinder, die noch geboren werden, leiden häufig unter Krankheiten und Mutationen. Fruchtbarkeit und das Gebären von gesunden Kindern sind damit zur Obsession geworden.
Die Gesellschaft ist streng aufgeteilt: prizipiell herrschen die Männer, wobei es auch hier eine strenge Hierarchie gibt und z.B. nicht jeder Mann das Anrecht auf eine Ehefrau hat. Die Frauen sind aufgeteilt in Wives (Ehefrauen), Marthas (Hausangestellte), und Handmaids (Mägde). Handmaids sind erwiesenermaßen fruchtbare Frauen. Sie werden als Gebärmaschinen von Haushalt zu Haushalt weitergereicht. (Angedeutet wird noch, dass es eine Unterschicht gibt, in der die Frauen alle Jobs erledigen müssen, also Ehefrau/Gebärmaschine sein und den Haushalt schmeißen - diese Klasse kommt aber in der Handlung nicht vor.) Frauen haben keinen Besitz, dürfen nicht lesen (nicht einmal die Bibel), nicht arbeiten und keine Ausbildung bekommen.
Da die meisten Wives keine Kinder bekommen können lebt in fast jedem Haushalt der Oberschicht eine Handmaid, deren einziger Job es ist, dem Hausherrn und seiner Frau ein Kind zu gebären. Das Kind gilt dann als Kind der beiden. Der Akt der Begattung ist eine streng ritualisierte Zeremonie und wird in einen an den Haaren herbeigezogenen christlichen Kontext eingebunden. Da die Handmaid ja nur als eine Art lebender Ersatz-Uterus der Wife gilt, hat sie nicht einmal einen Namen - sie gilt als Gegenstand, der dem Hausherrn gehört, und wird nach ihm benannt.
Toll ist, dass man beim Lesen dieses ganze System und seine Geschichte ohne jegliches Info-Dumping kennenlernt, sondern alle Fakten einfach in die Geschichte eingearbeitet sind.
Die Geschichte wird aus der Ich-Perspektive erzählt von Offred, deren echten Namen man nie erfährt. Ihr "Name" ist schon so ein Geniestreich der Autorin!
Erstmal ist es ganz normal eine typische Bezeichnung einer Handmaid: ihr Hausherr heißt mit Vornamen Fred, also ist sie "of Fred" = "Offred". Andere Handmaids heißen Ofwarren, Ofglen, Ofwayne und so weiter (auf Deutsch: Desfred, Deswarren, Desglen, Deswayne). Gleichzeitig ist "Offred" aber auch ein schönes Wortspiel: es klingt darin das englische "offered" (also: "angeboten", "als Opfer dargeboten") mit, und gleichzeitig klingt es wie "of red" ("rot", "von roter Farbe"), was sich auf die blutrote Kleidung der Handmaids bezieht. - Solche sprachlichen Schätze lassen sich einfach nicht übersetzen, deswegen empfehle ich das englische Orginal.
Offred ist vor einigen Wochen ihrem zweiten Haushalt zugeteilt worden, nachdem sie im ersten versagt hat, also kein Kind bekam. Es ist zwar allen klar, das dies (wahrscheinlich) daran liegt, das auch die meisten Männer steril sind, diese Wahrheit darf aber nicht ausgesprochen werden. Wenn Offred wieder kein Kind bekommt, dann droht ihr das Schicksal, deportiert zu werden "in the colonies" - Randgebiete des Staats mit Kriegsschäden, in denen hohe Hintergrundstrahlung herrscht und die Bevölkerung toxischen Müll wegräumen soll. Niemand überlebt dort lange.
Die Wife in Offreds Haushalt, Serena Joy, hasst Offred zwar - verständlicherweise - aber sie will unbedingt ein Kind. Nach und nach tun sich verschiedene Wege auf, wie Offred doch schwanger werden könnte, auf höchst illegale und damit lebensgefährliche Weise natürlich. Und Offred verliebt sich, obwohl sie eigentlich ihrem Mann Luke nachtrauert, mit dem sie versuchte, aus Gilead zu fliehen. Gleichzeitig beginnt ihr Hausherr, unerlaubt ihre Nähe zu suchen, um mit ihr Dinge zu teilen, die er mit seiner streng gläubigen Frau nicht teilen kann: erstmal nur Scrabble spielen, Lesen, alte Vogue-Magazine ansehen. Nebenbei bekommt Offred Kontak zu einer Resistance-Bewegung. Trotzdem bleibt sie in dem System gefangen, was umso bitterer ist, je öfter sie sich an ihre Mutter erinnert - denn ihre Mutter war Feministin und eine leidenschaftliche Frauenrechtlerin.
Die Geschichte fängt ein wenig langsam und behäbig an, das ist einer meiner beiden Kritikpunkte an dem Buch. Ich hätte mir das erste Drittel etwas gestrafft gewünscht. Obwohl es schwer zu sagen ist, wo man mit dem Streichen anfangen sollte, denn durch den langsamen Aufbau entwickelt das Buch auch eine Art Sog. Man wird in Offreds seltsame Welt hineingezogen. Trotzdem haben mir die beiden letzten Drittel besser gefallen, wo die Geschichte richtig an Fahrt auf nimmt.
Interessant ist übrigens auch der Aufbau des Buchs: Neben den Kapiteln ist es noch in übergeordnete Abschnitte eingeteilt. "Night" kommt dabei mehrfach vor, und alles was "Night" ist, behandelt das Innenleben und die unmittelbare Gegenwart Offreds. Die anderen Teile, wie "Shopping", "Jezebel's", "Bath" usw. beschreiben die äußeren Umstände, Personen, mit denen sie interagiert, und ihre Vorgeschichte. Dabei wird häufig eine Erinnerung Offreds durch eine aktuelle Handlung getriggert, und sie springt in der Chronologie wild hin und her. Atwood variiert dabei auch die Erzählzeit zwischen present und simple past (im Deutschen wahrscheinlich Präsens und Präterium), was sich aber sehr gut liest. Überhaupt ist der Stil wirklich lesenswert: kurz, prägnant, manchmal fast im Telegramm-Stil, und deshalb umso intensiver.
Mir hat das Buch wahnsinnig gut gefallen, obwohl es defintiv keine leichte Kost ist und kein Wohlfühlbuch.
Neben dem oben schon erwähnten etwas trägen Anfang ist mein einziger weiterer Kritikpunkt, dass ich glaube, eine so grundlegende Änderung der Gesellschaft könnte nicht in so wenigen Jahren passieren (wenn man Offreds Erinnerungen genau ansieht, dann muss die Wandlung von der "normalen", aktuellen Gesellschaft zu dem totalitären Regime innerhalb von 2-4 Jahren geschehen sein). Grundsätzlich halte ich eine Änderung dieser Art schon möglich - man denke z.B. an den Wandel des recht liberalen Persien hin zum iranischen Gottesstaat. Auch und gerade christliche Gruppen könnten solche Staaten erschaffen. Aber nicht in so kurzer Zeit.
Trotzdem hat mich das Buch genug beeindruckt, um 5 Sterne zu vergeben.
(Übrigens gibt es hier im Forum schon eine Rezi zu dem Buch, von Amilyn, die zu einem deutlich anderen Ergebnis kommt: https://wortkompass.de/forum/interne...argaret-atwood
Ich habe nur eine neue geschrieben, weil es für mich dem Gefühl nach auf Englisch ein anderes Buch ist.)
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