Warum ein Held seine Sidekicks braucht …
Was wäre Sherlock Holmes ohne Dr. Watson, was Harry Potter ohne Ron und Hermine? Und wie hätte Frodo seine Aufgabe erfüllen können, wenn sein treuer Gärtner Sam ihn nicht auf Schritt und Tritt begleitet hätte?
Eine gute Geschichte lebt von ihren Charakteren. Sie sind es, mit denen wir mitfiebern, deren emotionale Höhen und Tiefen uns berühren und die uns schlussendlich im Gedächtnis bleiben. Deswegen besteht eine der ersten Aufgaben eines Schriftstellers darin, einen vielschichtigen und lebendigen Protagonisten zu erschaffen, der uns die Geschichte durch seine Augen erzählen kann.
Doch wie intensiv man sich auch mit dem Protagonisten beschäftigt, wie genau man ihn vom Kopf bis zu den Zehennägeln kennt und wie viele Generationen man in seinem Stammbaum zurückverfolgen kann … ohne ein ebenso vielschichtiges Umfeld wird er niemals vollends zur Geltung kommen.
Greifen wir dazu das erste Beispiel von oben auf: Sherlock Holmes. Unabhängig davon, ob man sich nun mit den Romanen von Arthur Conan Doyle beschäftigt oder lieber zu den diversen Kinofassungen und TV-Serien greift, stellt man recht schnell fest, dass Sherlock Holmes kein allzu sympathischer Zeitgenosse ist. Ein wissenschaftliches Genie, ohne Frage, aber auch arrogant, selbstgerecht und drogenabhängig[1]. Kurzum, er ist kein Charakter, in den sich der Ottonormalleser so einfach hineinversetzen kann.
Erst die sozialen Interaktionen mit Dr. Watson, der eher das Potential hat, dem Leser ein Spiegelbild zu präsentieren, lässt auch Sherlock Holmes menschlicher wirken und sorgt dafür, dass wir uns mit ihm identifizieren – oder zumindest mit ihm mitfiebern können.
Dies ist natürlich nur ein Grund, warum es sinnvoll ist, einem Helden einen oder mehrere Gefährten an die Seite zu stellen. Es gibt viele Figurenkonstellationen, und auf alle einzugehen, würde den Umfang dieses Artikels sprengen. Ich möchte euch daher an dieser Stelle nur die gängigsten vorstellen und kurz erklären, wie man mit ihrer Hilfe den Protagonisten in ein anderes (besseres) Licht rücken kann.
Badass und Lovely Idiot
In diese Kategorie fällt auch das eben gebrachte Beispiel von Sherlock Holmes und Dr. Watson. Wir haben zwei (relativ) gleichberechtigte Figuren, die sich charakterlich oft an entgegengesetzten Extrempunkten bewegen. Holmes ist wissenschaftlich genial und abgehoben, Watson dagegen einfühlsam und menschlich.
Doch erst dadurch, dass der Leser erlebt, wie sie als Duo miteinander interagieren, bekommen sie ihre Tiefe und Besonderheit, da ihre jeweiligen Charaktere aufeinander abfärben und sich ihre positiven Eigenschaften verstärken.
Klassische Sidekicks
Als klassischen Sidekick kann man Ron Weasley in den Harry-Potter-Romanen auffassen. Sidekicks sind (anders als in der oberen Kategorie) dem Protagonisten stärker untergeordnet, erfüllen aber ganz ähnliche Zwecke: Sie unterstützen den Helden, hören sich seine Probleme an und lockern die Handlung auf.
Ron z.B. stammt aus einer intakten Familie - Seine größten Probleme bestehen darin, den Schulabschluss zu machen und nicht in der Masse seiner Geschwister unterzugehen. Diese Alltäglichkeit ermöglicht es Harry, nicht permanent mit Voldemort, seiner tragischen Familiengeschichte oder irgendwelchen Weltrettungsplänen beschäftigt zu sein.
Beste Freundinnen[2]
Diese Figurenkonstellation taucht in der Regel in Liebesromanen auf und spielt eine wichtige Rolle bei der charakterlichen Entwicklung der Protagonistin. Eine unglücklich verliebte Frau wird von ihrer besten Freundin getröstet, erhält gute Ratschläge und im richtigen Augenblick den Tritt in den Hintern, der sie aus ihrem Jammertal zurück in die reale Welt befördert.
Anders als ein Mentor (siehe nächste Konstellation) ist sie aber nicht unbedingt klüger und erfahrener als die Protagonistin – oftmals führt sie diese auch unwissentlich aufs Glatteis –, sondern stellt eine emotionale Stütze dar.
Ein Beispiel für das männliche Pendant (ohne Romanze) lässt sich übrigens im Herrn der Ringe finden: Frodo wird von Sam immer wieder aufgerichtet und schließlich dazu angetrieben, über sich hinauszuwachsen und dem Bösen (in sich) die Stirn zu bieten.
Mentor und Schüler
Eine weitere klassische Konstellation, die in vielen Filmen und Büchern zu finden ist: Artus und Merlin, Luke Skywalker und Obi-Wan Kenobi, Katniss Everdeen und Haymitch … Der Mentor soll dem Protagonisten den richtigen Weg weisen und stellt ihm genau die Herausforderungen, die er für seine charakterliche Entwicklung benötigt. Dabei präsentiert er seine Ergebnisse in der Regel nicht auf einem Silbertablett, sondern lässt den Helden eigene Schlüsse ziehen (und oftmals auch bewusst den falschen Weg einschlagen).
Liebespaar
Dazu muss man, wie ich glaube, überhaupt nicht viel erzählen. Romeo und Julia, Rose und Jack aus Titanic, Tris und Four aus Divergent … Die Liste ließe sich vermutlich endlos fortsetzen.
Doch egal, ob die Liebesgeschichte nun zentraler Punkt der Handlung oder nur ein Nebenschauplatz ist, erfüllt sie einen wesentlichen Zweck: Der Protagonist erlebt alltägliche Probleme, mit denen sich jeder Leser identifizieren kann. Und nebenbei ist es gerade in klassischen Liebesromanen vorteilhaft, wenn sich auch die Leser(innen) für den Love Interest begeistern können.
Allein diese Liste ließe sich wohl beliebig erweitern. Neben den Zwei-Personen-Konstellationen treten Charaktere oftmals auch in Trios auf.
Klassisches Trio
Dies findet man sowohl auf der „guten“ als auch auf der „bösen“ Seite. Ein Bösewicht wird von zwei bulligen Handlangern begleitet. Ein Held hat seinen besten Kumpel und das Mädchen seiner Träume an seiner Seite.
Gerade aus der Sicht des Protagonisten gibt es innerhalb des Trios auch andere Beziehungsgeflechte, die wieder auf die bereits besprochenen Zwei-Personen-Konzepte zurückgeführt werden können.
Love Triangle
Dieses Beziehungsgeflecht möchte ich noch einmal besonders hervorheben, weil sich die Dynamik an dieser Stelle tatsächlich in einem Dreieck, und nicht in mehreren unabhängigen Zweierkonstellationen abspielt. In der Regel streiten sich an dieser Stelle zwei Männer um die gleiche Frau und wetteifern mehr oder weniger offen um ihre Gunst.
In Liebesromanen steht die Entscheidung für den oder die Richtige im letzten Showdown, in Romanen anderer Genres kann sich dieser Punkt nach vorne verlagern und weitreichende Konsequenzen für den Protagonisten haben. So kann zum Beispiel der verschmähte Liebhaber zu einem echten Antagonisten werden, dem sich der Protagonist im Finale stellen muss. Oder er ist es, der sich im Finale für das Liebespaar opfert, um am Ende auf tragische Weise im Gedächtnis zu bleiben.
Große Gruppen
Nicht immer sind es Zweier- oder Dreierkonstellationen, mit denen der Protagonist sich befassen muss, aber auch größere Gruppen kann man oftmals auf ein solches Schema herunterbrechen und die individuellen Beziehungsgeflechte danach analysieren. In größere Gruppen schleichen sich auch hin und wieder unwichtige Statisten bei, die sich je nach Genre schnell wieder verabschieden oder (in Horrorgeschichten) als Erste sterben.
Zusammenfassend kann über all diese Konstellationen gesagt werden, dass die Nebencharaktere immer den Zweck erfüllen, den Protagonisten auf die eine oder andere Weise zu unterstützen, ihn zu erden und menschlich zu machen oder seine Fähigkeiten besser zur Geltung zu bringen.
Je nachdem, welchen Ton ihr in eurem Roman haben wollt, solltet ihr auf eine ausgewogene Figurenkonstellation achten, um den gewünschten Effekt zu erzielen.
[1] Sherlock konsumierte Kokain und Morphium, allerdings waren diese Mittel zu Zeiten der Romane frei verkäuflich und ihre Suchteffekte nur wenig bis überhaupt nicht bekannt.
[2] Es gibt natürlich auch männliche beste Freunde, aber aufgrund des üblichen Genres und der Funktion dieser Figuren, sind diese Rollen doch meistens mit Frauen besetzt.
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