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Bedeutung (Mythos) der Jungfräulichkeit

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    Bedeutung (Mythos) der Jungfräulichkeit

    Da das in meinen Romanen in den patriarchalen Gesellschaften so häufig bzw. zentral vorkommt (kein Sex vor der Ehe z.B. -> jede unverheiratete Liebesbeziehung muss daher im Roman zu einem Problem werden), habe ich mir die Frage gestellt, was eigentlich hinter dieser legendären Jungfräulichkeit insbesondere von Mädchen steht.

    Emotional verbinde ich damit einen sehr patriarchalen Gedanken: Das "reine", unschuldige Mädchen wird durch das erste Mal vom Mann zu etwas gemacht. Bezeichnenderweise wird das Mädchen entjungfert (es passiert etwas mit ihm, genauer gesagt verliert es etwas, etwas wird entfernt), der Jüngling dagegen "wird zum Mann".

    Aber ich frage mich doch, was da tieferliegt. Fast schon pädophile Strukturen? Das Kind, das vom Mann in Geschlechtsverkehr eingeführt wird?
    Oder werden damit eher gesellschaftlich wichtige Probleme gelöst: Ein Mädchen, das jungfräulich verheiratet wird, bringt keine unehelichen Kinder (auch nicht im Mutterleib) mit. Da es ja immer das Fragezeichen bei der Vaterschaft gibt.

    Wisst ihr mehr? Was denkt ihr darüber?
    Derweilen ist auf dem Feld schon alles gewachsen, bevor die wussten, warum und wie genau es gedeiht. - Franziska Alber

    So nah, so fern.

    #2
    Ich denke, der patriarchalische Gedanke und Ignoranz sind das Dominierende bei diesem Gesellschaftskonstrukt "Jungfräulichkeit".

    Bezüglich der Anatomie, die dem ganzen scheinbar sichtbar zugrunde liegt: Es gibt so viele physiologische Variationen eines Hymens, von nicht vorhanden bis verschlossen (ist ein Rest aus der Embryonalentwicklung), und ein tatsächlich vorhandenes Hymen kann auch aus nicht sexueller Handlung einreißen oder eben auch nicht. Manche bluten beim Reißen, manche nicht. Anatomische Jungfräulichkeit ist im tiefsten Wortsinn Unsinn, der aus Unwissenheit, Gläubigkeit und patriarchalischer Machtgestaltung entstanden ist.

    Ich kenne auch den Ausdruck "wird zur Frau", allerdings ist das mW eher mit der Menstruation assoziiert, was dem zB 11jährigen Mädchen in manchen Gesellschaften den Erwachsenenstatus zuordnet und in entsprechenden Gesellschaften Kinderehen möglich und Mädchen einen weiteren Ausbildungsweg zunichte macht. Wieder gesellschaftliche Ignoranz.

    Pater semper incertus. War so, ist so, bleibt so – bis zur DNA-Untersuchung. Und dann war's der Zwilling. Um philosophisch-zynisch zu werden: Vielleicht ist das der Grund für die zutiefste Verunsicherung der armen Männer, die meinen, sich über Jungfräulichkeit und Entjungferung die fehlende Stärke verleihen zu können, um neben einer Frau zu bestehen. Da hilft nur mehr Selbstbewusstsein, das nicht über Körper, Geist und Seele eines Mädchen oder einer Frau rekrutiert und ausgetragen wird.
    Das ist jetzt keine Kritik an Deiner Gesellschaft im Buch, sondern in RL.
    Zuletzt geändert von Dodo; 20.08.2021, 16:40.

    Kommentar


    • Kelpie
      Kelpie kommentierte
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      Keine Sorge, fasse ich schon richtig auf Man schreibt ja in Büchern keine Idealgesellschaften, daher sind meine Romane sicherlich keine Utopien des Patriarchats.

      Danke für deine Gedanken.

    #3
    Es gab 2015 den Film „Der Jungfrauenwahn“ von Güner Yasemin Balci in der ZDF-Mediathek. Zwischenzeitlich auch mal bei Arte - aber jetzt nicht mehr abrufbar. Vielleicht gibt es den irgendwo noch online.

    Da Frauen bis ins jetzige Jahrhundert als „Ware“ und als Sexobjekt gesehen werden (dass man ihnen keine eigene Seele zugesprochen hatte, ist gar nicht so lange her...), ist die Jungfräulichkeit die Unversehrtheit des Objekts. „Mann“ will sein Auto auch ohne Kratzer. Bei Mitgiftsitten und Braut-Brauchtum wird klar, dass es sich um einen Kauf handelt. Kostet das Mädchen vier oder acht Rinder? Das wird mit Tradition und Moral vertuscht, aber im Grunde ist es ein simpler Deal. Auch Jungfrauen im Bordell sind um einiges teurer (und fast immer illegal, weil minderjährig), weil der Freier der „Erstbenutzer“ ist.

    Ich vermute, dahinter steckt eine tiefe Angst. Jungfrauen sind unerfahren und zumeist jung, haben also keinen Vergleich mit anderen Männern. Der gleichberechtigte, gleich alte Partner mit Erfahrung (also auch sexueller) wird gar nicht gewünscht. denn dann käme heraus, dass es mit dem Manne nicht so weit her ist. Die Frau könnte ja „stärker“ und dominant sein, OMG, wie furchtbar ist das denn?

    Es ist eine über Jahrtausende entwickelte Machtdemonstration: der Ehemann ist der erste und soll auch der einzige bleiben. Tatsächlich flüchteten Frauen sehr oft in lesbische Liebschaften, die sie mehr befriedigten, und die auch im häuslichen Umfeld stattfinden konnten (und mehr recht als schlecht toleriert wurden, weil man sie nicht als echte Liebe ansah), während ein Kennenlernen anderer Männer immer schon riskant blieb.

    Da Verhütung bis zur Pille fast ausschließlich durch Kondome stattfinden konnte, war die Sache mit der (ungewollten) Schwangerschaft durchaus ernstzunehmen. Der Mann entschied, ob verhütet wurde, und so gut wie nie tat er es nicht. In Stammesgesellschaften ist diese Gewähr, der tatsächliche Vater zu sein, immer noch ausschlaggebend.
    Der biologische Grund, Vater der eigenen Kinder zu sein, wird aber durch vorgeschobene Religionsmythen verdeckt. „Reinheit“ und Unschuld sind durch den Maria-Glauben verklärt. „Beschmutzte“ Mädchen sind das Böse und treiben es als Hexe mit dem Teufel. Es ist gottgewollt, dass es so ist, wie es ist. Die großen monotheistischen Religionen haben allesamt einen dominant-männlichen Gottvater, den „Herrn“, der immer schon die Sexualität von Frauen unterdrückte und „verteufelte“ - und das im wahrsten Sinne des Wortes.

    Zudem gibt es den Glauben, dass das „erste Mal“ prägend ist. Die Frau binde sich ihr ganzes Leben lang an diesen ersten Mann, an dieses erste Mal. emotional und körperlich. Da mag was dran sein, wird aber wohl überschätzt. Aber genau deshalb werden die Frauen bis zum Gebrauch „aufbewahrt“ (diese Vokabel wird tatsächlich auf sogenannten „Jungfrauenbällen“ verwendet), sie sind quasi die teure Flasche Wein, die man zu besonderem Anlass köpft. Es wird dann erwartet, dass die entjungferte Frau ihrem Mann ein Leben lang hörig ist, denn das soll sie ja auch.
    Zuletzt geändert von Badabumm; 20.08.2021, 20:19.

    Schlagfertigkeit ist etwas, worauf man erst 24 Stunden später kommt.
    Mark Twain

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    • Kelpie
      Kelpie kommentierte
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      Glaubst du (weißt du?), dass (ob) es in nicht-christlichen, nicht-muslimischen und nicht-jüdischen Gesellschaften anders um das Ansehen der Frau steht? Ich meine damit sowohl Gesellschaften heutzutage als auch Gesellschaften vor der Christianisierung.

    • Badabumm
      Badabumm kommentierte
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      In Dokus über Eisen- und Bronzezeit werden auch schon mal reich bestattete Kriegerinnen gefunden. Ebenso scheinen Frauen in Reitervölkern höhere Positionen eingenommen zu haben (z.B. Mongolei). Sparta war ein Beispiel für eine Kriegerkultur, bei der auch Frauen kämpften.

      "Das Mädchen von Egtved" wurde zwar in Dänemark gefunden, stammt aber aus Süddeutschland. Man vermutet inzwischen weitreichende Handelsbeziehungen durch ganz Europa, bei denen Frauen als Kultur- und Wissensvermittlerinnen auftraten. Es gibt zunehmend archäologische Funde, die das zu belegen scheinen. Allerdings können wir wenig über den Alltag aussagen. Es ist ja leider so, dass eine hohe Position nicht immer zugleich mit tatsächlicher Macht assoziiert ist.

      Vermutlich ist die Erfindung des göttlichen All"vaters" der Wendepunkt zu einer Kultur der Spaltung und Unterdrückung. Auch die Griechen gestatteten ihrem Zeus mehr Seitensprünge als den Göttinnen. Bereits dort war das Ungleichgewicht zu erkennen, obwohl es ein polytheistischer Glaube war. Aber der "Wert" der Frau im Alltag war auch schon im antiken Griechenland und erst recht in Rom geringer. Darüber täuschen hohe Göttingen nicht hinweg.

    • Victoria
      Victoria kommentierte
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      Zu dem dritten Absatz fällt mir das Narrativ "Born Sexy Yesterday" ein. Der Gedanke, der Erste zu sein, ist anscheinend so toll, dass er immer wieder in Geschichten verarbeitet wird. Mann hat ein unschuldiges und reines Mädchen, das zu einem heraufschaut und alles toll findet, ohne zu hinterfragen – denn das ist ohne Vergleich nicht so einfach. Und dann kann man es auch noch so schön erziehen.

      Sehr informativ. ↓
      https://www.filminquiry.com/born-sexy-yesterday/
      https://www.youtube.com/watch?v=0thpEyEwi80

    #4
    Zu diesem Thema finde ich ausnahmsweise den Wikipedia-Artikel eine ganz gute Übersicht über verschiedene gesellschaftliche Denkansätze, wenn auch oberflächlich abgehandelt. https://de.wikipedia.org/wiki/Jungfrau

    Gefühlsmäßig kann ich hier meinen Vorrednern nur zustimmen. Ich denke, dass in diesen Mythos der Jungfräulichkeit viele Faktoren reinspielen.

    Soziologisch wichtig ist, dass die Jungfrau, wie Du sagst, kein uneheliches Kind mit in die Beziehung bringen kann. (Obwohl es ja historisch auch genau den gegenteiligen Ansatz gab: man(n) heiratete bewusst eine Frau, die bereits ein Kind hatte, und damit ihre Fruchbarkeit unter Beweis gestellt hatte und einem viele Nachkommen in Aussicht stellte.)

    Dann gibt es diese v.a. christlich geprägte Deutung, dass "Keuschheit" mit "Reinheit" gleichgesetzt wird und eine Frau (v.a. eine junge Frau) "rein" zu sein hat. Wobei diese Deutung ihre Wurzeln sogar in vorchristlicher Zeit hat, vgl. die Vestalinnen im antiken Rom. Positiv gesehen kann hier die Jungfräulichkeit auch eine gewisse Entrückung darstellen, die Frau wendet sich dem Göttlichen zu und entsagt weltlichen/fleischlichen Dingen und wird so zu einem besseren/wertvolleren Wesen. Solche Jungfrauen aus religiösem Ansatz genossen/genießen meist gesellschaftlich einen hohen Stellenwert.

    Hinzu kommt ein gewisser Machtanspruch in patriarchischen Kulturen: wie oben von Badabumm so schön verglichen, die "Ware" Frau hat "unbeschädigt" zu sein, wenn sie in den "Besitz" ihres Ehemannes kommt. Und natürlich ist der Akt der Entjungerung selbst eine Machtdemonstration, zumindest wenn es die klassische Hochzeitsnacht mit dem "Vollziehen der Ehe" ist, die mit einvernehmlichem und aus Liebe durchgeführtem Sex meist sehr wenig zu tun hatte. Der Mann demonstriert damit sein Recht, diese Frau zu "benutzen", und macht sie gleichzeitig für alle anderen Männer unbrauchbar/wertlos.

    Spannend finde ich ja die Frage, ab wann eine Frau überhaupt als "entjungfert" gilt. Muss vaginaler Sex stattgefunden haben? Muss es zum Orgasmus geführt haben, nur beim Mann, nur bei der Frau, bei beiden? (Jeder kennt ja die Urban Legend von einer Freundin einer Cousine eines Nachbarn, die angeblich jungfräulich in die Ehe gehen will, und deshalb mit ihrem Freund ausschließlich oralen und analen Sex hat ...) Muss es einvernehmlicher Sex gewesen sein? Die Antworten auf diese Fragen sind doch recht vielfältig, und man kann sich dabei nur auf Eines verlassen: es sind gewöhnlich Männer, die mit entschiedener Stimme festlegen, bis wann eine Frau "als Jungfrau gilt". (Ich meine, das Thema wird einmal im Avalon-Zyklus von Marion Zimmer Bradley gestreift, bei der Frage, ob eine Frau, die immer keusch gelebt hat und gerne jungfräuliche Dienerin der Göttin werden möchte, das überhaupt kann - weil sie als Kind vergewaltigt wurde.)
    Always avoid alliteration.

    Kommentar


    • Badabumm
      Badabumm kommentierte
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      Die klassische „Feststellung“ war ja das Blut auf dem Laken. Zu jeder Zeit und in vielen Kulturen war auch die Begutachtung durch Ärzte oder Nonnen üblich. Dass selbst das nicht immer zufriedenstellend war, zeigt folgender Film, in dem eine Braut „zurückgegeben“ wurde, weil sie nicht genug geblutet hatte. Die Schwiegermutter wollte einen „Schwall von Blut über das ganze Laken“. Selbst da artet Aberglaube ins Unermessliche aus. Ob der Film wahr ist, kann ich nicht nachprüfen - vorstellen kann ich mir das leider sehr wohl.

      https://www.youtube.com/watch?v=_eaTcUahKvc&t=343s

      Terre des Femmes

      Oft wird auch der Handel mit „künstlichen Jungfernhäutchen“ erwähnt.

    • Kelpie
      Kelpie kommentierte
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      Danke auch für deine Einsichten. Den Teil mit den Vestalinen hatte ich ja quasi von Badabumm erfragt und jetzt hier einen Teil der Antwort gelesen.

    • Badabumm
      Badabumm kommentierte
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      Immerhin wird man nachdenklich, weil die "Jungfrau" auch in anderen, nicht-monotheistischen Kulturen so wichtig genommen wurde. Das Phänomen ist global und über alle Zeiten ein Thema. Es scheint also noch tiefergreifende Gründe zu geben. Man könnte zum Vergleich Völker der Südsee hinzuziehen, die mit Sexualität anders umgegangen sind. Man könnte fast meinen, "paradiesisch", was aber natürlich nicht stimmt. Ist dieses Phänomen also kulturbedingt oder liegt doch die Biologie zugrunde? Zumindest lässt sich feststellen, dass patriarchalische Strukturen diesen Wahn fördern. Ebenso wie bei der Beschneidung wird so etwas dann aber von den alten Frauen durchgesetzt und betoniert, was ja eigentlich unverständlich ist. Auch wenn es irgendwann mal von Männern implementiert wurde, so setzen die Frauen diese Regeln weiter fort, als glaubten sie selbst an die Richtigkeit. Den Menschen zu verstehen, fällt tatsächlich schwer...

    #5
    Hey,

    also ich könnte dir noch ein paar Gedanken aus der Antike dalassen. Nur was mir spontan dazu einfällt.

    Die Jungfräulichkeit (virginitas, integritas) bedeutet vor allem die Unberührtheit der Frau, also nicht unverheiratete Frau.

    Generell ist der Status der Jungfrau im antiken Rom zwar nicht das non plus ultra aber durchaus bedeutend. Die Berufung zu einer jungfräulichen Priesterin im Tempel der Vesta (Vestalin) war mit hohem Ansehen verbunden. Es gibt auch viele Göttinnen die jungfräulich sind und damit von einem Mann unabhängig (Diana, Minerva).

    Die Römer kannten signifikanterweise keine Bezeichnung für die ledige Frau und verwendeten e. g. innupta nur im Sinne von „noch nicht verheiratet“. Jungfräulichkeit war also die Stufe der Reinheit vor der Heirat.

    Gleichsam kann aber auch eine berührte Frau diesen ehrenhaften Zustand erhalten, wenn sie verheiratet und in einem ehespezifischen und gewiss auch einem patriarchalischen Sinne treu ist. Das Ganze steht dann unter de Konzept der pudicitia (Keuschheit) und Beispiele für Ideale Frauen (univirae) sind e. g. Penelope (Frau des Odysseus), Andromache, Lucretia.

    So ist Augustus' Frau auch eine ideale Frau, obwohl sie vor Augustus bereits einmal verheiratet gewesen war. Aber die bringt die perfekten Charaktereigenschaften und sogar Söhne in die Ehe mit.

    Liebe Grüße
    Zuletzt geändert von Lyriksoldatin; 02.09.2021, 18:51.

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    • Kelpie
      Kelpie kommentierte
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      Super, danke dir für diese "römischen" Ausblicke

    #6
    Als Variante des "Jungfrauentums" ist mir noch das hier eingefallen: https://de.wikipedia.org/wiki/Eingeschworene_Jungfrau
    Finde ich auch gesellschaftlich eine sehr interessante Variante. Durch den Verzicht auf sexuelle Kontakte bzw. Ehe steigt die Frau damit quasi in den "höheren Status" eines Mannes auf.
    Always avoid alliteration.

    Kommentar


    • Kelpie
      Kelpie kommentierte
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      Faszinierend. Nie davon gehört!
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