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Mittwochsfrage #130: Kann man Werk und Autor trennen?

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    #16
    Ich will die Frage, ob und wie man Werk und Autor trennen kann, mal noch weiterspinnen: was ist, wenn die moralische Grundhaltung, nach der der Autor als Person bewertet wird, sich seit dem Erscheinen des Werks grundlegend geändert hat?

    Ich komme darauf, weil ich gerade eine Biographie über Oscar Wilde gelesen habe.
    Wilde war auf dem Höhepunkt seiner literarischen Karriere als er wegen Homosexualität angeklagt und zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt wurde. Und das war es mit seiner Karriere. Seine Theaterstücke, die gerade in London gespielt wurden, wurden sofort abgesetzt. Seine Verleger distanzierten sich von ihm. Als er nach der Gefängniszeit wieder ein paar Kleinigkeiten veröffentlichte, war das nur ein schwacher Abklatsch des ehemaligen Ruhms.
    Jetzt, Jahrzehnte später, wird er posthum wieder gefeiert. Heute empfinden wir seine Verurteilung als großes Unrecht, und verehren ihn deshalb umso mehr. Denn, wenn man ehrlich ist: Wilde hat wirklich tolle Sachen geschrieben, aber er war auch nicht der Allergrößte. Trotzdem ist der Kult um seine Person und sein Werk heute großer als z.B. um Zeitgenossen Wildes wie William Butler Yeats oder George Bernard Shaw.
    "Salome" und "Das Bildnis des Dorian Gray" sind zweifelsohne große Werke, aber wären sie heute auch so bekannt (und geliebt), wenn Wilde nicht so eine extzentrische, interessante und aus heutiger Sicht zu Unrecht verkannte Figur gewesen wäre?

    Als Gegenbeispiel will ich Ernst Moritz Arndt anführen.
    Arndt war Abgeordneter der Frankfurter Nationalversammlung, ein deutscher Patriot, Demokrat, Nationalist, Freiheitskämpfer. Alles aus der damaligen deutschen Sicht nicht nur verständlich, sondern auch lobenswert. Leute wie Arndt haben viel dazu beigetragen, dass wir heute in einem Land namens Deutschland leben.
    Trotzdem ... aus heutigem Verständnis gehen Arndts Ansichten vielen Leuten zu weit. Er vertrat die Lehre, dass jedes Volk einen ursprünglichen, "reinen" Zustand habe, der nicht durch Beimischung "fremden Bluts" "verwässert" werden dürfe. Er hatte keine Probleme, auszusprechen, dass er andere Völker hasste - vor allem "die Engländer", "die Franzosen" und "die Juden". Gerade seine antisemitischen und antifranzösischen Schriften sind aus heutiger Sicht Äußerungen, für die man ihn als übelsten Rassisten bezeichnen würde. Nicht umsonst bezeichneten die Nationalsozialisten Arndt als ihren Vordenker, und so mancher AfD-Anhänger beruft sich gerne mal auf Arndt.
    Arndts Märchen sind dagegen - ja, einfach schön. Typische Märchen halt. Und im derzeit üblichen Märchen-Hype werden sie wieder herausgeholt, gelesen, und neu umgesetzt. Wobei ich ein ziemlich flaues Gefühl in der Magengrube habe. Dieser unkritische Umgang mit seinen Märchen gefällt mir gar nicht - aber ist das gerechtfertigt? War der Mann nicht einfach nur ein Produkt seiner Zeit, und ich sollte seine Kunst losgelöst davon betrachten? Immerhin war er zu seiner Zeit ja "moralisch im Recht".
    Always avoid alliteration.

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    • Dodo
      Dodo kommentierte
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      Milch
      Ich bin nicht ambivalent, meine Entscheidung z B gegen Alice im Wunderland ist für mich völlig in Ordnung.

      Oder mal polemisch (nicht als Angriff gemeint, nur in Extrem formuliert): Soll man dafür sein, Vergewaltigung zu vergessen, weil der Täter tolle Musik machte / tolle Bücher schrieb? Muss ein Opfer oder jemand, der dafür ist, das Opfer höher zu halten als den Täter, das aushalten können?

      Mir ist es wirklich egal, ob Leute Michael Jackson oder Lewis Carroll feiern oder es für überflüssig halten, dass sich das Literaturnobelpreis-Kommittee neu formiert, aber deren Meinung soll bitte nicht als die einzig wahre gelten. Es gibt kein: "Ich bin dafür, dass wir das aushalten", es gibt nur ein "Ich halte das aus."
      Die persönliche Meinung ist ja in Ordnung, aber sie kann nicht als Doktrin gelten, an den sich alle halten sollten.

    • Milch
      Milch kommentierte
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      Das Opfer wird ja nicht vergessen. Ich bin auch dafür, dass sich jemand für seine Taten vor Gericht in einem fairen Prozess verantworten muss.
      Ich bin aber auch dafür, Menschen nicht nur als Täter zu sehen, dann beschränken wir jemand nur auf seine Tat.

    • Dodo
      Dodo kommentierte
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      Als Kunstkonsument bin ich keine Strafverfolgungsbehörde, sondern meine eigene ethische Instanz. Ich ahnde keine Straftat, sondern folge meiner Auffassung, ob ich einer dubiosen Gestalt Respekt zolle oder nicht. Es gibt genügend Kunstwerke, von denen ich nichts Schlimmes über die Urheber kenne ...
      Wenn ich sage: Ich bin dafür, es auszuhalten, dass der berühmte Täter ein unberühmtes Opfer mit seiner Tat vernichtet hat, und ihn und sein Werk weiter zu feiern, dann vergisst man in der Tat das Opfer nicht. Man verpasst ihm damit einen zusätzlichen Tritt.
      Aber ich bin dafür, dass das jeder mit sich selbst abmachen muss. Ich versuche mit meinem Verhalten, das Opfer nicht zu einem weiteren Opfer zu machen. Der Täter hat das Opfer schon auf das Opfertum reduziert.
      Zuletzt geändert von Dodo; 02.09.2019, 15:14.

    #17
    Ein stückweit mache ich das Trennen ganz automatisch. Erkennbar daran, dass ich mir Bücher im Laden z.B. nicht nach Autorenname (also ob man ihn/sie bereits kennt), aussuche. Ich schaue rein auf den Klappentext und wenn der gut klingt, würde ich nicht erst recherchieren, wer dahintersteckt. Dazu habe ich auch keinen Bezug. Beim Lesen in der Onlinecommunity (z.B. in Archiven) ist das irgendwann anders, weil man durch die Kommunikation (Reviews schreiben, privat Feedback geben) einen Kontakt aufbaut, dann habe ich auch eine Verknüpfung zwischen Werk und Autor und würde je nach Situation noch mehr Geschichten von ihm/ihr eine Chance geben oder auch nicht, wenn es menschlich gar nicht passt. Aber regulär in Buchhandlungen oder auch mal beim Durchscrollen solcher Archive schaffe ich da erst mal keinen Bezug. (Ähnlich halte ich das auch bei Filmen/Serien. Wie oft weiß ich nicht mal, wer mitspielt, Regisseur ist usw., weil mich einfach nur Geschichte interessiert und nicht der Erschaffer, Darzustellende.) Auf die Person - oder deren Ansichten - dahinter muss ich also erst mal gestoßen werden und dann wäre ich je nach Background bei zukünftigen Werken dann auch vorsichtiger und ich würde auf das Verbreiten einer bestimmten Message im bereits gelesenen Werk eher achten.

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      #18
      Ignorance is bliss.

      Ich habe mich nie sonderlich für Autoren interessiert, sondern für die Geschichten, die sie erzählen. Vielleicht sind einige Autoren, deren Geschichten ich gerne lese, wirklich fürchterliche Menschen, keine Ahnung.

      Sollte ich es dennoch mitbekommen, schaffe ich die Trennung von Autor und Text/Werk nicht mehr, dann beginne ich beim Lesen nach Bestätigung oder Ablehnung dessen zu suchen, das dem Autor vorgeworfen wird. Macht keinen Spaß mehr.

      Nach dem ich über die Missbrauchsvorwürfe gegen Zimmer Bradley gelesen habe, habe ich kein weiteres Buch mehr von ihr gekauft. Das gleiche gilt auch für einen Musiker, den ich mochte. Nachdem sie ihn in Thailand wegen Kindersex verknackt haben, habe ich die CDs nicht mehr angerührt. Keine wirklich bewusste Entscheidung, eher ein Mangel an weiterem Interesse. Mit M. Jackson tue ich mich leichter, ich war nie ein Fan und habe bei Thriller meist den Radiosender gewechselt.

      I love deadlines. I like the whooshing sound they make as they fly by.

      Douglas Adams

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