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Mittwochsfrage #124: Wie schreibt man Tragik?

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    Mittwochsfrage #124: Wie schreibt man Tragik?

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    Als wichtiger Bestandteil einer "guten" Figurenentwicklung geben wir alle (?) unseren Figuren, zumindest den Protagonisten, ein Päckchen an Traumata, Ängsten, Hindernissen mit. In der dunkelsten Stunde konfrontieren wir die Charaktere mit ihrer persönlichen Tragik. Manche entlassen ihre Figuren in eine Welt ohne Hoffnung (i S einer klassischen Tragödie).

    Auch hier gilt natürlich: Die Dosis macht das Gift.
    Drama und Tragik können leicht in Melodram, Rührseligkeit und Tränenduselei ausarten.

    Wie haltet Ihr beim Giftstreuen, Beinstellen, Katastrophenentwerfen Maß?
    Wie entwerft Ihr das persönliche Unglück Eurer Figuren?
    Und wie stellt Ihr es dar? Soll der Leser weinen?
    Für die wahren Tragöden unter uns: Schenkt Ihr den Figuren (und dem Leser) am unhappy end einen Lichtblick?

    #2
    Oh, dieses Melodramatische kann ich in Büchern überhaupt nicht ausstehen. Umso ärgerlicher war es, als ich feststellte, dass einer meiner Protagonisten mit seiner Vergangenheit dem armen Bauernkind, das seine Familie bei einem Brand verliert, entsetzlich nahe kommt. Ich versuche inzwischen (da ich es nicht mehr herausdröseln kann) dieses Geschehnis im Roman einerseits nicht allzu deutlich auszutreten und andererseits die eigentliche Wunde auf ein präzises Ereignis innerhalb dieses Unglücks zu konkretisieren, sodass es ein bisschen weniger klischeehaft wird.

    Grundsätzlich suche ich gar nicht so sehr nach dramatischen Ereignissen, die den Leser zu Tränen rühren sollen. Es kommt eher von alleine - irgendwie kommen negative Erfahrungen viel schneller und automatischer in den Lebenslauf meiner Figuren als positive. Bei der Darstellung achte ich darauf, dass es möglichst natürlich und nüchtern rüberkommt. Keine melodramatischen Ausführungen, keine Tränen auf der Wange, wenn jemand davon erzählt. Im Gegenteil, im Dialog wirkt es meines Erachtens besser, wenn man die Entfremdung benutzt, also entweder den vom Unglück geplagten Protagonisten nur sehr distanziert und knapp erzählen lässt (kein Herz ausschütten, sondern widerstrebendes Informationsrinnsal auf Nachfrage) beziehungsweise den Gesprächspartner etwas ungeschickt darstellen, da dieser nicht weiß, was er erwidern soll. Das kann dann durch Handlungen oder unsichere Antworten ausgedrückt werden.

    Mir fällt häufiger auf, dass insbesondere meine alten Figuren, also diejenigen, die ich vor vielen Jahren erschaffen habe, zur Melodramatik tendieren - ich halte das für einen Anfängerfehler. Etwa das arme Straßenmädchen, das nicht nur an seiner Armut, den toten Eltern und ständigem Hunger zu leiden hat, sondern selbstverständlich auch noch vergewaltigt wurde. Im Laufe der Geschichte spielt das allerdings überhaupt keine Rolle mehr und sollte der Figur wohl nur etwas geben, woran sie am Anfang ein bisschen herumweinen kann.
    Das ist ein klassischer Fall von Unglück, das in meinen Augen in der Überarbeitung herausgenommen werden sollte. Wirklich glaubhafte Tragik muss sich nämlich durch die gesamte Figur/Perspektive/Geschichte ziehen und nicht nur zu einem Zeitpunkt auftauchen, an dem ein bisschen Mitleid vom Leser erwünscht wäre.
    Derweilen ist auf dem Feld schon alles gewachsen, bevor die wussten, warum und wie genau es gedeiht. - Franziska Alber

    So nah, so fern.

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      #3
      Wichtig ist: Fallhöhe und Persönlichkeit.

      Fallhöhe kennen wir noch aus der Schule: Je höher die Figur steht, desto tiefer kann sie fallen. In diesem Sinne ist Physik ebenso ein Grundsatz der Dramatik

      Ich versuche die Tragik meiner Figuren so aufzubauen, dass sie in ein Ringen mit ihrer Persönlichkeit geraten, dass der Kern ihres Wesens mit dem tragischen oder dramatischen Element verwoben ist. Das tragische Element muss sich in der Figur auswirken, nicht einfach nur ihr zugestoßen sein. Hier reichen dann oft schon kleine Dinge, die eine große Wirkung haben.

      Das ist vermutlich generell ein guter Tipp: weniger ist mehr.
      Sowohl bei den tragischen Erlebnissen, als auch bei der Beschreibung. Wenn man die tragische Situation bis zur letzten Mitleidsträne auswringen will, erreicht man oft das Gegenteil im Leser.
      Auch muss man die Persönlichkeit der Figur beachten, wenn man sie über das tragische Ereigniss reden lässt bzw. wie sie darin handelt. Manche Menschen profitieren davon, sich jemandem anzuvertrauen und tun es deswegen bereitwilliger; anderen wiederrum nicht und sie tun es auch ungern; und natürlich einen Haufen an anderer Eigenschaften die hier hereinspielen können.
      Ayo, my pen and paper cause a chain reaction
      to get your brain relaxin', the zany actin' maniac in action.
      A brainiac in fact, son, you mainly lack attraction.
      You look insanely whack when just a fraction of my tracks run.

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      • Dodo
        Dodo kommentierte
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        Ich sehe es ähnlich: Die schönsten tragischen Momente sind nicht die allgemeingültigen Unglücksfälle oder Szenarien wie Armut oder Krankheit, sondern rekrutieren sich aus dem höchstpersönlichen inneren Konflikt der Figur, der ihren Prinzipien, Gefühlen, Wünschen wirklich wehtun muss.

      #4
      Ich sehe es ähnlich wie meine Vorposter; Tragik zu schreiben bedeutet nicht, irgendwelche schlimmen Dinge auf eine Figur zu häufen, sondern zu zeigen, was ein Ereignis mit der Figur macht. Und damit meine ich jetzt nicht verzweifelt herumschreien, sondern dass das Ereignis die Figur nachhaltig verändert. Das kann ganz leise geschehen. Es kann eine Person härter machen oder hilfloser, stiller oder streitlustiger, netter oder gemeiner. Der wichtige Punkt ist, dass dieses einzelne Ereignis die kraft hat, eine Persönlichkeit zu verändern und damit letztlich auch die ursprüngiche Persönlichkeit ein Stückweit zu zerstören.

      Interessant dargestellt finde ich es, wenn der Leser nach und nach herausfindet, warum eine Figur so ist wie sie ist. Welches Ereignis sie zu dem gemacht hat, was sie ist, und am Ende vielleicht sogar Verständnis aufbringen kann für die weniger positiven Charakterzüge. Wenn sich dann mit dieser Erkenntnis eine ganz neue Welt öffnet, indem man sich überlegt "was wäre, wenn das Ereignis nicht stattgefunden hätte? Was wäre die Figur für eine Person, wie wäre die Geschichte verlaufen?" Je größer diese Diskrepanz, desto härter schlägt die Tragik zu, ganz unabhängig davon, wie das die Figur selbst empfindet.

      Wie haltet Ihr beim Giftstreuen, Beinstellen, Katastrophenentwerfen Maß?
      Das ist ziemlich intuitiv. Ich häufe durchaus mal ne Menge Mist über meine Figuren, das hängt auch ein bisschen am Genre. Aber ich behalte dabei eben immer im Auge, was bestimmte Dinge mit der Figur machen. Oft sind es eher kleinere Dinge, die sie am tiefsten treffen. Der Rest verschleiert das wahre Drama dann oft nur und dient dazu, dass die Figur ihre tiefsten Wunden besser verstecken kann.

      Wie entwerft Ihr das persönliche Unglück Eurer Figuren?
      Auch das enwickelt sich eher mit der Zeit von selbst. Ich denke, wenn man sowas auf dem Reißbrett entwirft, dann greift man zu oft auf Klischees zurück oder trägt zu dick auf oder findet nicht die richtige Stimmung. Wenn ich dagegen einer Figur einfach eine Vorgeschichte verpasse mit ein paar dunklen Stunden, dann merke ich im Verlauf der Geschichte sehr schnell, welche dieser Ereignisse ihre Schatten werfen, und das können Dinge sein, an die ich so nie gedacht hätte, oder die ich sonst vielleicht übertrieben hätte, wenn sie von Anfang an geplant gewesen wären.

      Und wie stellt Ihr es dar? Soll der Leser weinen?
      Es wäre natürlich schön, wenn der Leser so tiefe Empathie für eine Figur aufbringt, dass er mit ihr oder um sie weinen kann. Ob ich so gut schreibe, dass ich das absichtlich bewirken kann, bezweifle ich. Der Leser bringt in diese Situation ja auch seine eigenen Erfahrungen mit, und die kann ich nicht kontrollieren. Manche Dinge sprechen zu einem Leser und lassen den anderen nur mit den Augen rollen. Ich denke, ich versuche vor allem hinzukriegen, dass es mich selbst rührt. Mag sein, dass dieses Maß für andere zu viel oder zu wenig ist, aber zumindest kann ich mir sicher sein, dass es für jemanden (nämlich mich) genau richtig ist. Wenn mir beim Lesen einer Stelle jedesmal das Herz bricht, dann sollte es mir egal sein, ob irgendwer anders das vielleicht kitschig findet, so viel Selbstbewusstsein muss man als Autor entwickeln.

      Poems are never finished.
      Just abandoned.

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        #5
        Das sind echt viele wirklich gute Tipps. Voll cool

        Eine weitere sehr effektive Form der "Tragik" ist, wenn sie mehr im Kopf des Lesers als in der Reaktion des Charakters stattfindet.

        Was ich damit meine: Manchmal erlebt ein Charakter so viele schreckliche Dinge. Das Schicksal (auch bekannt als "der Autor") schmeißt ihm unaufhörlich Steine in den Weg und nimmt ihm alles weg, was er liebt. Doch statt sich in einem Loch zu vergraben und zu Weinen, findet der Charakter immer neue Hoffnung, auch wenn du als Leser genau weißt, dass sie vergebens ist.

        Ein Beispiel: Kennt ihr den Ghibli Film "Die letzten Glühwürmchen"? (Warnung Spoiler)
        Niemals werde ich das keine Mädchen vergessen, das, obwohl es langsam verhungert, seine kindliche Freude und Naivität nicht verliert. Wie es die Steine aus der Bonbondose isst und bis zur letzten Minute voller Hoffnung bleibt. Sie ist einfach nur glücklich, dass sie ihren Bruder noch hat und dass er sie liebt.

        Dieser Film hat mein Herz gebrochen und ist ein großartiges Beispiel dafür, dass Tragik des Geschehens nicht immer aktiv durch den Charakter erlebt werden muss. Das Mitgefühl des Lesers kann sogar richtig stark sein, auch wenn der Character sich seines eigenen Leides nicht einmal bewusst ist.

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        • Dodo
          Dodo kommentierte
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          SaKi Ich werde sowas schlecht wieder los.
          Ick saß schon mit randvollen Augen in Disneys "Küss den Frosch", als die Mücke (oder war es ein Glühwürmchen?!) starb.
          Bei mir gibt's deshalb nur Happy Ends.

        • SaKi
          SaKi kommentierte
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          Dodo geht mir eigentlich auch so, trotzdem schaue ich immer wieder dramatische Filme *g* aber ich habe auch schon Pipi in den Augen, wenn ich Szenen einfach nur schön oder rührend finde – selbst wenn ich sie schon hundertmal gesehen habe. (Endszene beim Club der toten Dichter zum Beispiel) … trotzdem sind die letzten Glühwürmchen ein Film, den ich dir empfehlen würde. Danach kannst du ja Mein Nachbar Totoro oder Chihiros Reise ins Zauberland gucken

        • StarlightNovels
          StarlightNovels kommentierte
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          SaKi @Dodo
          Filme sind generell sehr gute Lehrmeister für Emotionen und effizientes Storytelling.

          Hoffnung ist ein unglaublich machtvolles Tool, besonders wenn sie vergeblich ist. Die Szene in "Küss den Frosch" mit Evangeline und dem Glühwürmchen ist dafür ein super Beispiel.

          Es ist tragisch, weil der Zuschauer und die anderen Charaktere genau wissen, dass seine Liebe zu einem Stern vergeblich ist und nie erwidert werden kann. Doch er glaubt daran bis zu seiner letzten Sekunde und gibt niemals auf. Niemals!

          Das ist bewundernswert, dumm, niedlich und absolut tragisch.

          zu Ghibli:
          Der Film ist echt nichts für schwache Nerven. Ich kann das gut verstehen. Mir reicht einmal gucken auch aus. Aber wenn man "Tragik" lernen will, ist der Film meisterhaft

        #6
        In meinen Ideen haben die Geschichten schon eine gewisse Tragik, die spiele ich aus.

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        • Dodo
          Dodo kommentierte
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          Wie sieht die Tragik aus? Persönliches Dilemma oder eher gesellschaftlich konzipierte Sackgassen?
          Mit welchen Mitteln hältst Du Abstand vom Melodram?

        • Milch
          Milch kommentierte
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          Mal das eine Mal, mal das andere, im Idealfall beides.

        #7
        Meine persönliche Wahrnehmung ist, das in den aktuelleren Büchern, die ich in den letzten 5 Jahren gelesen habe, bei den 'Katastrophen', Missgeschicken, Hindernissen immer eine Schippe draufgelegt wird. die Morde, die Verletzungen, die persönlichen Dramen werden blutiger, grausamer, psychotischer, für mich verstörender, geschildert. Gleichzeitig habe bei 2 Romanserien ein gewisses Schema entdeckt. ich wusste beim 3. Band, ok, den 2 Protagonisten passiert jetzt das , das und das und wenn Sie kurz vom Aufgeben sind, dann passiert das, das und das. Nachdem es im 4. Band genauso war, habe ich den 5. Band nicht mehr gelesen. Ich habe für mich entschieden, Dramatik mehr aus dem persönlichen Erleben der Figuren aufzubauen, wie durch Naturkatastrophen, Ausrottung ganzer Dörfer und Familien und ähnliches. Wenn ich packend beschreiben kann, mit welchen inneren Konflikten mein 'Held' zu kämpfen hat, wenn ich mehr auf die Unsicherheiten und Zweifel eingehe, dann, denke ich, sollte sich genug Dramatik erzeugen lassen, um die Geschichte , voranzutreiben. Ob mir das gelingt ? Weiß ich nicht, ich bin auf dem Weg....

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        • AgiHammerKlau
          AgiHammerKlau kommentierte
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          Alles gut.
          Wenn es der Story dient, sind für mich Naturkatastrophen auch in Ordnung. Wie du schon im Startpost gefragt hast: "Wie haltet Ihr beim Giftstreuen, Beinstellen, Katastrophenentwerfen Maß?" Und ich bin voll bei euch "Weniger ist mehr"

        • Ankh
          Ankh kommentierte
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          Ich denke, das kommt aus einer gewissen Unsicherheit des Autors, ob die Katastrophe "stark" genug ist. Man will ja keine Figur, die aus Kleinigkeiten ein Drama macht, und es ist auch nicht unbedingt leicht, alle Aspekte eines Problems überzeugend darzustellen. Also häuft man eben auf der anderen Seite noch eine Schippe drauf und denkt "hey, wenn er seine Familie, sein Heim, seine Arbeit, seine Liebe, seinen Arm UND seinen Hund verliert, muss das die Leser doch überzeugen, was für eine arme Sau er ist! Dann muss ich das gar nicht mehr groß thematisieren, wie sehr ihn das mitnimmt!" Ja, doch muss man. Um die Schilderung, wie es die Figur beeinflusst, kommt man einfach nicht drumherum, und je gewaltiger die Katastrophe, umso schwerer macht man es sich am Ende damit.

        • Amilyn
          Amilyn kommentierte
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          Ja, ich sehe das auch - gerade bestimmte Genres im Bereich Liebesroman, gerne für junge Erwachsene. Ich habe gerade einen New Adult-Roman gelesen, der super anfing, die obligatorische schlimme Vergangenheit der Protagonistin echt gut behandelt hat (nicht zu dick aufgetragen, aber auch nicht einfach so nebenher laufend), und ihr Schnucki war auch noch ihr Dozent. Für eine Liebesgeschichte ein schöner Konflikt, der absolut knifflig genug ist, um da was draus zu machen. Aber kurz vor Schluss musste Schnucki plötzlich auch noch seine tragische Vergangenheit auspacken, viel schlimmer als alles andere, was bisher passiert ist, und dass die beiden Liebenden in einer Lehrer-Schüler-Beziehung zueinander stehen - aaach, egal, lässt sie halt einfach seinen Kurs sausen. Ist doch viel herzzerreißender so.
          Die Katastrophen bei z.B. "Abbitte" von Ian McEwan steigern sich sicherlich auch immer weiter (von Eifersucht über den Vorwurf der Vergewaltigung zu Krieg und Tod), sind aber wesentlich besser rübergebracht und machen nicht den Anschein, als habe der Autor nicht immer noch einen drauflegen müssen, weil es nicht genug sei. Gerade "Abbitte" zeigt, wie sich die Konsequenzen eines Missverständnisses immer weiter hochschaukeln können, und zaubert nicht plötzlich ein Ereignis aus dem Hut, das im Grunde keiner braucht, lässt aber dafür eine Steilvorlage für gute Tragik einfach fallen.
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