Für alle, die es interessiert
Es gibt zwei Arten von Autoren, die Plotter und die … und da fängt’s schon an. Wer sind die anderen? Pantser? Bauchschreiber? Drauflosschreiber? Discovery-Writer? Irgendwie ist der Begriff für diese Typen schon genauso undefiniert wie das, was die da machen. Plotter haben Methode. Die anderen haben eine Schublade voller verstaubter Romananfänge.
Halt, Stopp. Die anderen haben auch Methoden. Eine – meine – will ich euch hier vorstellen.
Ich habe für mich dafür den Begriff Freefall-Schreiben gewählt. Weil man dabei einfach mal einen Schritt ins Nichts macht mit der Einstellung »die Richtung wird schon stimmen«. Geschichte, tu was du willst.
Man kann dabei natürlich vorher nicht planen, wo man am Ende genau ankommt (sonst wäre man ja ein Plotter), aber das ist für mich auch der Kick an der Sache. Ich lasse mich gerne von meinen Geschichten überraschen. Wenn ich schon beim Schreiben wüsste, wie sie ausgeht, wäre sie mir zu langweilig, um noch Monate damit zu verbringen, sie aufzuschreiben.
Das klingt jetzt nach extremem Risiko. Man schreibt und schreibt, aber wer garantiert, dass am Ende eine Geschichte herauskommt und nicht ein halbfertiges Manuskript in der Schublade landet, weil man irgendwo steckenbleibt?
Der Trick dabei ist, der Geschichte zu vertrauen, dass es immer geradeaus geht, der Landeplatz irgendwann schon in Sicht kommt und man die passende Ausrüstung besitzt, dort dann sicher zu landen.
Und diese Ausrüstung haben wir. Wir alle haben schon tausende Geschichten gelesen. Wir wissen ganz intuitiv, wie Geschichten funktionieren und welche Bestandteile sie brauchen. Der Kurs der Geschichte, die wir schreiben, steckt auch schon vorgezeichnet in uns drin. Wir brauchen keinen Kompass, wir haben die Schwerkraft.
Jetzt aber genug der Analogien, wie funktioniert das konkret?
Am Anfang steht eine Idee. Das kann ein Writing Prompt sein. Das kann ein Bild sein, ein Blick aus dem Zugfenster oder eine coole mentale Szenerie, die sich plötzlich mit Leben füllen. Das können Figuren sein, eigene oder fremde, bei denen man sich fragt »was passiert, wenn …?« Und dann fängt das Kopfkino an zu rollen.
Ein Plotter würde sich jetzt vermutlich hinsetzen und überlegen, worauf das hinauslaufen soll, dann ein paar passende Wendepunkte entwickeln und das Ganze dann mehr oder weniger fein ausarbeiten. Keine Ahnung, wie die das machen. Ich bin kein Plotter.
Ein Freefaller schreibt einfach mal das Kopfkino hin. So frisch, wie es kommt. Taugt es für eine Kurzgeschichte, einen Roman, einen zehnbändigen Zyklus mit anschließender Verfilmung? Wurscht. Aber für den Fall, dass man für die Verfilmung Halle Berry bekommt, kann man sie ja gleich mit in die Szene schreiben. Die würde sich da mitten im Gefecht gut machen. Mit Piratenhut. Sie stellt ihren Stiefel auf eine Kanone, zieht die Zigarre zwischen den Zähnen hervor und drückt sie an die Lunte.
Go Wild. Hab Spaß. Schreib. Schreib, bis die Tasten glühen und solange das Kino läuft. Schreib jeden coolen Spruch, der dir einfällt, bevor du ihn wieder vergisst. Die Atmosphäre? Ein bisschen zu blumig, aber egal. Dafür gibt es die Überarbeitung. Die Bewaffnung des gegnerischen Schiffs? Müsste man jetzt drüber nachdenken oder recherchieren, man kann aber auch einfach erst mal ein paar Zeilen freilassen. Zunächst muss sich Ryan Reynolds aus der Takelage schwingen.
So. Und dann? Dann haben wir uns die Seele aus dem Leib geschrieben, dabei gelacht und geweint und als Preis eine wunderbare Szene oder auch gleich ein ganzes Kapitel. So weit waren viele schon mal. Nur leider landet die Szene dann bei den meisten in der Schublade, nachdem man krampfhaft versucht hat, daran noch ein bisschen weiterzuschreiben, aber einfach nicht mehr dasselbe Feuer gefunden hat, und außerdem keine Ahnung, wie es weitergehen soll.
Sei beruhigt: Du musst keine Ahnung haben. Das macht die Schwerkraft bzw. der innere Geschichtenerzähler schon. Wir sind hier, um Spaß zu haben. Schlagen wir doch einfach mal ein paar Saltos und spielen mit dem Wind.
Die Figur, die sich da durch die Takelage geschwungen hat, wer ist das eigentlich? Wo kommt er her, wo hat er so gut kämpfen gelernt, und warum trägt er eigentlich pinke Fellhosen und ein dutzend Glasperlenketten? Ich habe ihm in der Szene ein paar Details angedichtet, weil sie in dem Moment spaßig und interessant erschienen und die Szene bunter machten. Spaßige und interessante Details ergeben eine Figur, die das Publikum liebt, also erforsche ich ihn mal ein bisschen näher. Ich stelle mir Fragen über ihn, und die Antworten darauf bringen das Kopfkino wieder ins Rollen. Eine neue Szene! Diesmal geht mein rosabehoster Pirat an Land und wird in der Kneipe von ein paar Landratten ausgelacht, sodass es zu einer filmreifen Fechtszene kommt, Kronleuchter und fliegende Bierhumpen selbstverständlich eingeschlossen.
Nein, die Szene hat erst einmal keine direkte Verbindung zur ersten, abgesehen davon, dass dieselbe Figur darin vorkommt. Das ist nicht wichtig. Wirklich! Denn wir befinden uns immer noch auf derselben Flugbahn direkt nach unten. Nur an einer anderen Stelle. Wir können nämlich in der Zeit reisen! Ha!
Die meisten hier schreiben ihr Manuskript auf einem Computer in einem Schreibprogramm. Und egal, welches das ist, man kann darin herumscrollen, Zeilen einfügen und Textblöcke verschieben. Das heißt, ich habe in meinem Dokument nicht zwei völlig unzusammenhängende Szenen, sondern ich habe eine Geschichte mit noch ziemlich vielen weißen Stellen.
Ich habe aber auch bereits zwei Szenen voller schöner, bunter, spaßiger Details, die mein Kopfkino genauso ins Rollen bringen wie die Idee am Anfang. Ich habe neue Figuren, die ich kennenlernen kann, Schauplätze, die ich erforschen kann, Requisiten, die ich untersuche, ob darin nicht eine Schatzkarte verborgen liegt. Ich stelle mir ganz automatisch Fragen: Wie lernen sich Ryan und Halle kennen? Wie kommen die an ein Schiff, und wo fahren sie damit hin? Wie gut können sie sich leiden und was passiert, wenn der Rum ausgeht? Und was immer mich am meisten inspiriert, wird Gegenstand meiner nächsten »einfach mal drauflos-Szene«.
Das klingt alles furchtbar konfus und ziellos? Ist es nicht. Die kuriosen Details und Fragen, die ich instinktiv herauspicke und denen ich nachspüre, sind die Dinge, die auch den Leser am wahrscheinlichsten faszinieren. Ganz automatisch, denn ich bin ja auch nur begeisterter Leser des Romans, der da gerade entsteht.
Ja, im Grunde plotten ich. Und ich betreibe Weltenbau. Und ich entwickle Figuren. Nur schreibe ich halt gleichzeitig auch schon mal eine Rohversion. Alles parallel, und ein entdecktes Detail stupst das nächste an, ohne dass ich mich einenge, indem ich mir künstlich einen Rahmen stecke oder einen Schreibplan verfolge. Ich brauche keinen, weil alles, was ich erfinde, per Definition irgendwo auf meiner Flugbahn liegt.
Okay, fein, sagt der skeptische Autor. Irgendwann habe ich dann einen Haufen zugegebenermaßen ganz großartiger Fetzen, die lose irgendetwas miteinander zu tun haben. Sie spielen alle in derselben Welt mit denselben Figuren, sie führen vielleicht inhaltlich an Details entlang irgendwie einer zum anderen, vorwärts oder rückwärts. Aber so ne richtig runde Geschichte ist das nicht, oder?
Noch nicht. Aber sie wird eine, wenn wir uns aus den Fetzen unseren Fallschirm basteln und damit sanft landen.
Jetzt wird’s ein bisschen philosophisch, und deswegen ist die Methode nix für Leute, die ein sicheres Geländer brauchen [1]. Aber ich bin überzeugt, dass bei allem, was sich da so nach und nach entwickelt, die Geschichte schon unterbewusst in mir drinsteckt. Wenn zwischen meinen Fetzen Lücken klaffen, durch die der Wind zischt, dann nicht, weil ich irgendwo falsch abgebogen bin (geht eh nicht, weil Schwerkraft) sondern ich habe einfach noch nicht genau genug nachgeguckt und noch nicht alle Fragen gestellt und alle Fetzen gesammelt. Aber das was ich habe, sind alles Teile eines Fallschirms. Was auch sonst? Szenen sind Ausschnitte aus einer größeren Geschichte. Immer. Per Definition. Man muss nur die richtige Geschichte finden. Wenn die Szenen weit auseinanderliegen, dann ist einfach der Fallschirm größer.
Das hier ist der Punkt, wo ich bewusst und methodisch anfange zu plotten und aus meinen Fetzen meinen Fallschirm nähe.
Zunächst einmal nehme ich mir die schönsten, buntesten, grandiosesten Fetzen: Die Szenen, die mich überhaupt erst zu diesem Werk inspiriert haben. Sie mache ich zu meinem Zentrum, zu meinen Plotpunkten [2].
Die erste Szene auf dem Schiff wird vielleicht der zweite Plot Turn. Die Kneipenszene der Hook. Denn die Szenen, die ich mit Zunder geschrieben habe, haben auch beim Lesen das größte Feuer, und sie verdienen eine zentrale Position. Sie sind perfekt, weil sie einfach alles haben, was Spaß macht, weil ich sie völlig frei von irgendwelchen Vorgaben und Plotgerüsten geschrieben habe, in die sie hineinpassen mussten. Sie sind wild und verwegen und überraschend und nonkonformistisch, weil ich nicht einfach einen Hook geschrieben habe, als ich einen Hook brauchte, sondern mir aus meinem Fundus etwas herauspicke, was wunderbar als Hook funktioniert, auch wenn es aus irgendeinem Grund eine Spitzenbordüre hat. Die ist vielleicht nicht nötig, aber hey, sie gibt Charakter.
Nach und nach passe ich meine anderen Fetzen dazwischen. Das geht leichter, als ihr vielleicht denkt, denn immerhin habe ich diese einzelnen Fetzen ja auch an gedanklichen Linien entlang geschrieben. Da kann schon mal was überstehen. Vielleicht schneide ich es weg, vielleicht lasse ich es dran, je nachdem, wie schön der Zipfel im Wind flattert [3]. Da kann auch mal ne Lücke klaffen, dann schreibe ich die halt einfach zu. Ich weiß ja, dass da was fehlt, und wenn ich die richtigen Fragen stelle, wie ich von Fetzen A nach Fetzen B komme, dann weiß ich auch, was da fehlt und was ich da weben muss. Vielleicht entdecke ich im bereits genähten Teil auch ein interessantes Muster, dann webe ich das da dann gleich mit ein – und klöppel noch ne Spitzenbordüre dran, just for fun.
Der Teil mit den Lücken macht vielleicht am meisten Angst, wenn man es noch nie probiert hat, aber er macht auch am meisten Spaß. Irgendwo hier in einer der letzten Mittwochsfragen haben ganz viele gesagt, dass das geilste Gefühl beim Schreiben ist, wenn man das richtige Puzzleteil für den Plot findet. Stellt euch vor, ihr findet dieses Puzzelteil im freien Fall bei 200 km/h.
Vielleicht machen manche dieser letzten Flicken auch keinen großen Spaß zu schreiben, wenn sie einfach Lückenfüller sind ohne viel Eigenpotential. Das macht nichts. Denn außer den Fallschirm zusammenzuhalten müssen sie nichts tun. Wir haben genug grandiose, bunte, tragfähige Szenen, und diese paar langweiligen winzigen Flicken schaffen wir notfalls auch ohne Spaß, denn das Ende unseres Fluges ist bereits in Sicht.
Unser Fallschirm ist fertig. Kein durchgestylter, glatter, punktsymmetrisch bedruckter Fallschirm (wobei das nur eine Frage ist, wie lange und gekonnt ihr näht). Sondern der originellste, bunteste, geilste Fallschirm, denn ihr euch vorstellen könnt, und das Publikum wird die Augen aufreißen.
Und das ist nicht einmal die Hauptsache. Die Hauptsache ist, ihr hattet einen wilden Ritt im Wind. Denn Schreiben soll Spaß machen. Wenn am Ende etwas dabei rauskommt, das euch das Publikum aus den Händen reißt, umso besser. Aber selbst wenn ihr unterwegs die Lust verliert, an dem Ding weiterzunähen, und die Fetzen doch in der Schublade landen, dann sind es keine Handarbeiten, die ihr euch abgequält habt, sondern großartige Fantasien, die ihr in Worte gewebt habt. Und die euch irgendwann aus der Schublade rufen werden und darum betteln, doch nochmal einen Sprung mit ihnen in die Tiefe zu wagen.
[1] Jahaaa, das sag ich erst jetzt, aber was hast du von einer Methode erwartet, die Freefall heißt?
[2] Das Schnittmuster, das System, nach dem ihr plottet, könnt ihr euch frei aussuchen, je nachdem, was euch am besten liegt. 7 Punkte, Heldenreise, eigenes Rezept, wurschtegal. Ich nehme hier jetzt mal Begriffe aus der 7-Punkte-Struktur, weil ich in letzter Zeit hauptsächlich mit der gearbeitet habe.
[3] Da kann auch mal ein Teil überhaupt keine Verwendung finden. Heb ich mir auf für den zweiten Band. Ich habe inzwischen Stoff für mindestens acht.
Es gibt zwei Arten von Autoren, die Plotter und die … und da fängt’s schon an. Wer sind die anderen? Pantser? Bauchschreiber? Drauflosschreiber? Discovery-Writer? Irgendwie ist der Begriff für diese Typen schon genauso undefiniert wie das, was die da machen. Plotter haben Methode. Die anderen haben eine Schublade voller verstaubter Romananfänge.
Halt, Stopp. Die anderen haben auch Methoden. Eine – meine – will ich euch hier vorstellen.
Ich habe für mich dafür den Begriff Freefall-Schreiben gewählt. Weil man dabei einfach mal einen Schritt ins Nichts macht mit der Einstellung »die Richtung wird schon stimmen«. Geschichte, tu was du willst.
Man kann dabei natürlich vorher nicht planen, wo man am Ende genau ankommt (sonst wäre man ja ein Plotter), aber das ist für mich auch der Kick an der Sache. Ich lasse mich gerne von meinen Geschichten überraschen. Wenn ich schon beim Schreiben wüsste, wie sie ausgeht, wäre sie mir zu langweilig, um noch Monate damit zu verbringen, sie aufzuschreiben.
Das klingt jetzt nach extremem Risiko. Man schreibt und schreibt, aber wer garantiert, dass am Ende eine Geschichte herauskommt und nicht ein halbfertiges Manuskript in der Schublade landet, weil man irgendwo steckenbleibt?
Der Trick dabei ist, der Geschichte zu vertrauen, dass es immer geradeaus geht, der Landeplatz irgendwann schon in Sicht kommt und man die passende Ausrüstung besitzt, dort dann sicher zu landen.
Und diese Ausrüstung haben wir. Wir alle haben schon tausende Geschichten gelesen. Wir wissen ganz intuitiv, wie Geschichten funktionieren und welche Bestandteile sie brauchen. Der Kurs der Geschichte, die wir schreiben, steckt auch schon vorgezeichnet in uns drin. Wir brauchen keinen Kompass, wir haben die Schwerkraft.
Jetzt aber genug der Analogien, wie funktioniert das konkret?
Am Anfang steht eine Idee. Das kann ein Writing Prompt sein. Das kann ein Bild sein, ein Blick aus dem Zugfenster oder eine coole mentale Szenerie, die sich plötzlich mit Leben füllen. Das können Figuren sein, eigene oder fremde, bei denen man sich fragt »was passiert, wenn …?« Und dann fängt das Kopfkino an zu rollen.
Ein Plotter würde sich jetzt vermutlich hinsetzen und überlegen, worauf das hinauslaufen soll, dann ein paar passende Wendepunkte entwickeln und das Ganze dann mehr oder weniger fein ausarbeiten. Keine Ahnung, wie die das machen. Ich bin kein Plotter.
Ein Freefaller schreibt einfach mal das Kopfkino hin. So frisch, wie es kommt. Taugt es für eine Kurzgeschichte, einen Roman, einen zehnbändigen Zyklus mit anschließender Verfilmung? Wurscht. Aber für den Fall, dass man für die Verfilmung Halle Berry bekommt, kann man sie ja gleich mit in die Szene schreiben. Die würde sich da mitten im Gefecht gut machen. Mit Piratenhut. Sie stellt ihren Stiefel auf eine Kanone, zieht die Zigarre zwischen den Zähnen hervor und drückt sie an die Lunte.
Go Wild. Hab Spaß. Schreib. Schreib, bis die Tasten glühen und solange das Kino läuft. Schreib jeden coolen Spruch, der dir einfällt, bevor du ihn wieder vergisst. Die Atmosphäre? Ein bisschen zu blumig, aber egal. Dafür gibt es die Überarbeitung. Die Bewaffnung des gegnerischen Schiffs? Müsste man jetzt drüber nachdenken oder recherchieren, man kann aber auch einfach erst mal ein paar Zeilen freilassen. Zunächst muss sich Ryan Reynolds aus der Takelage schwingen.
So. Und dann? Dann haben wir uns die Seele aus dem Leib geschrieben, dabei gelacht und geweint und als Preis eine wunderbare Szene oder auch gleich ein ganzes Kapitel. So weit waren viele schon mal. Nur leider landet die Szene dann bei den meisten in der Schublade, nachdem man krampfhaft versucht hat, daran noch ein bisschen weiterzuschreiben, aber einfach nicht mehr dasselbe Feuer gefunden hat, und außerdem keine Ahnung, wie es weitergehen soll.
Sei beruhigt: Du musst keine Ahnung haben. Das macht die Schwerkraft bzw. der innere Geschichtenerzähler schon. Wir sind hier, um Spaß zu haben. Schlagen wir doch einfach mal ein paar Saltos und spielen mit dem Wind.
Die Figur, die sich da durch die Takelage geschwungen hat, wer ist das eigentlich? Wo kommt er her, wo hat er so gut kämpfen gelernt, und warum trägt er eigentlich pinke Fellhosen und ein dutzend Glasperlenketten? Ich habe ihm in der Szene ein paar Details angedichtet, weil sie in dem Moment spaßig und interessant erschienen und die Szene bunter machten. Spaßige und interessante Details ergeben eine Figur, die das Publikum liebt, also erforsche ich ihn mal ein bisschen näher. Ich stelle mir Fragen über ihn, und die Antworten darauf bringen das Kopfkino wieder ins Rollen. Eine neue Szene! Diesmal geht mein rosabehoster Pirat an Land und wird in der Kneipe von ein paar Landratten ausgelacht, sodass es zu einer filmreifen Fechtszene kommt, Kronleuchter und fliegende Bierhumpen selbstverständlich eingeschlossen.
Nein, die Szene hat erst einmal keine direkte Verbindung zur ersten, abgesehen davon, dass dieselbe Figur darin vorkommt. Das ist nicht wichtig. Wirklich! Denn wir befinden uns immer noch auf derselben Flugbahn direkt nach unten. Nur an einer anderen Stelle. Wir können nämlich in der Zeit reisen! Ha!
Die meisten hier schreiben ihr Manuskript auf einem Computer in einem Schreibprogramm. Und egal, welches das ist, man kann darin herumscrollen, Zeilen einfügen und Textblöcke verschieben. Das heißt, ich habe in meinem Dokument nicht zwei völlig unzusammenhängende Szenen, sondern ich habe eine Geschichte mit noch ziemlich vielen weißen Stellen.
Ich habe aber auch bereits zwei Szenen voller schöner, bunter, spaßiger Details, die mein Kopfkino genauso ins Rollen bringen wie die Idee am Anfang. Ich habe neue Figuren, die ich kennenlernen kann, Schauplätze, die ich erforschen kann, Requisiten, die ich untersuche, ob darin nicht eine Schatzkarte verborgen liegt. Ich stelle mir ganz automatisch Fragen: Wie lernen sich Ryan und Halle kennen? Wie kommen die an ein Schiff, und wo fahren sie damit hin? Wie gut können sie sich leiden und was passiert, wenn der Rum ausgeht? Und was immer mich am meisten inspiriert, wird Gegenstand meiner nächsten »einfach mal drauflos-Szene«.
Das klingt alles furchtbar konfus und ziellos? Ist es nicht. Die kuriosen Details und Fragen, die ich instinktiv herauspicke und denen ich nachspüre, sind die Dinge, die auch den Leser am wahrscheinlichsten faszinieren. Ganz automatisch, denn ich bin ja auch nur begeisterter Leser des Romans, der da gerade entsteht.
Ja, im Grunde plotten ich. Und ich betreibe Weltenbau. Und ich entwickle Figuren. Nur schreibe ich halt gleichzeitig auch schon mal eine Rohversion. Alles parallel, und ein entdecktes Detail stupst das nächste an, ohne dass ich mich einenge, indem ich mir künstlich einen Rahmen stecke oder einen Schreibplan verfolge. Ich brauche keinen, weil alles, was ich erfinde, per Definition irgendwo auf meiner Flugbahn liegt.
Okay, fein, sagt der skeptische Autor. Irgendwann habe ich dann einen Haufen zugegebenermaßen ganz großartiger Fetzen, die lose irgendetwas miteinander zu tun haben. Sie spielen alle in derselben Welt mit denselben Figuren, sie führen vielleicht inhaltlich an Details entlang irgendwie einer zum anderen, vorwärts oder rückwärts. Aber so ne richtig runde Geschichte ist das nicht, oder?
Noch nicht. Aber sie wird eine, wenn wir uns aus den Fetzen unseren Fallschirm basteln und damit sanft landen.
Jetzt wird’s ein bisschen philosophisch, und deswegen ist die Methode nix für Leute, die ein sicheres Geländer brauchen [1]. Aber ich bin überzeugt, dass bei allem, was sich da so nach und nach entwickelt, die Geschichte schon unterbewusst in mir drinsteckt. Wenn zwischen meinen Fetzen Lücken klaffen, durch die der Wind zischt, dann nicht, weil ich irgendwo falsch abgebogen bin (geht eh nicht, weil Schwerkraft) sondern ich habe einfach noch nicht genau genug nachgeguckt und noch nicht alle Fragen gestellt und alle Fetzen gesammelt. Aber das was ich habe, sind alles Teile eines Fallschirms. Was auch sonst? Szenen sind Ausschnitte aus einer größeren Geschichte. Immer. Per Definition. Man muss nur die richtige Geschichte finden. Wenn die Szenen weit auseinanderliegen, dann ist einfach der Fallschirm größer.
Das hier ist der Punkt, wo ich bewusst und methodisch anfange zu plotten und aus meinen Fetzen meinen Fallschirm nähe.
Zunächst einmal nehme ich mir die schönsten, buntesten, grandiosesten Fetzen: Die Szenen, die mich überhaupt erst zu diesem Werk inspiriert haben. Sie mache ich zu meinem Zentrum, zu meinen Plotpunkten [2].
Die erste Szene auf dem Schiff wird vielleicht der zweite Plot Turn. Die Kneipenszene der Hook. Denn die Szenen, die ich mit Zunder geschrieben habe, haben auch beim Lesen das größte Feuer, und sie verdienen eine zentrale Position. Sie sind perfekt, weil sie einfach alles haben, was Spaß macht, weil ich sie völlig frei von irgendwelchen Vorgaben und Plotgerüsten geschrieben habe, in die sie hineinpassen mussten. Sie sind wild und verwegen und überraschend und nonkonformistisch, weil ich nicht einfach einen Hook geschrieben habe, als ich einen Hook brauchte, sondern mir aus meinem Fundus etwas herauspicke, was wunderbar als Hook funktioniert, auch wenn es aus irgendeinem Grund eine Spitzenbordüre hat. Die ist vielleicht nicht nötig, aber hey, sie gibt Charakter.
Nach und nach passe ich meine anderen Fetzen dazwischen. Das geht leichter, als ihr vielleicht denkt, denn immerhin habe ich diese einzelnen Fetzen ja auch an gedanklichen Linien entlang geschrieben. Da kann schon mal was überstehen. Vielleicht schneide ich es weg, vielleicht lasse ich es dran, je nachdem, wie schön der Zipfel im Wind flattert [3]. Da kann auch mal ne Lücke klaffen, dann schreibe ich die halt einfach zu. Ich weiß ja, dass da was fehlt, und wenn ich die richtigen Fragen stelle, wie ich von Fetzen A nach Fetzen B komme, dann weiß ich auch, was da fehlt und was ich da weben muss. Vielleicht entdecke ich im bereits genähten Teil auch ein interessantes Muster, dann webe ich das da dann gleich mit ein – und klöppel noch ne Spitzenbordüre dran, just for fun.
Der Teil mit den Lücken macht vielleicht am meisten Angst, wenn man es noch nie probiert hat, aber er macht auch am meisten Spaß. Irgendwo hier in einer der letzten Mittwochsfragen haben ganz viele gesagt, dass das geilste Gefühl beim Schreiben ist, wenn man das richtige Puzzleteil für den Plot findet. Stellt euch vor, ihr findet dieses Puzzelteil im freien Fall bei 200 km/h.
Vielleicht machen manche dieser letzten Flicken auch keinen großen Spaß zu schreiben, wenn sie einfach Lückenfüller sind ohne viel Eigenpotential. Das macht nichts. Denn außer den Fallschirm zusammenzuhalten müssen sie nichts tun. Wir haben genug grandiose, bunte, tragfähige Szenen, und diese paar langweiligen winzigen Flicken schaffen wir notfalls auch ohne Spaß, denn das Ende unseres Fluges ist bereits in Sicht.
Unser Fallschirm ist fertig. Kein durchgestylter, glatter, punktsymmetrisch bedruckter Fallschirm (wobei das nur eine Frage ist, wie lange und gekonnt ihr näht). Sondern der originellste, bunteste, geilste Fallschirm, denn ihr euch vorstellen könnt, und das Publikum wird die Augen aufreißen.
Und das ist nicht einmal die Hauptsache. Die Hauptsache ist, ihr hattet einen wilden Ritt im Wind. Denn Schreiben soll Spaß machen. Wenn am Ende etwas dabei rauskommt, das euch das Publikum aus den Händen reißt, umso besser. Aber selbst wenn ihr unterwegs die Lust verliert, an dem Ding weiterzunähen, und die Fetzen doch in der Schublade landen, dann sind es keine Handarbeiten, die ihr euch abgequält habt, sondern großartige Fantasien, die ihr in Worte gewebt habt. Und die euch irgendwann aus der Schublade rufen werden und darum betteln, doch nochmal einen Sprung mit ihnen in die Tiefe zu wagen.
[1] Jahaaa, das sag ich erst jetzt, aber was hast du von einer Methode erwartet, die Freefall heißt?
[2] Das Schnittmuster, das System, nach dem ihr plottet, könnt ihr euch frei aussuchen, je nachdem, was euch am besten liegt. 7 Punkte, Heldenreise, eigenes Rezept, wurschtegal. Ich nehme hier jetzt mal Begriffe aus der 7-Punkte-Struktur, weil ich in letzter Zeit hauptsächlich mit der gearbeitet habe.
[3] Da kann auch mal ein Teil überhaupt keine Verwendung finden. Heb ich mir auf für den zweiten Band. Ich habe inzwischen Stoff für mindestens acht.
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